Tag 24 im Halle-Prozess

Heute ist der 24. Verhandlungstag im #HalleProzess. Wir werden wieder in den Pausen hier im Thread berichten. Heute sollen die Abschlussplädoyers der Nebenklage weiter fortgesetzt werden.

Zuerst spricht RA Böhmke. Dieser greift einzelne Punkte aus einer möglichen Argumentation der Verteidiger des Attentäters auf und versucht diese aus seiner Sicht zu entkräften.

So führt er bspw. gegen das Argument dass die Synagoge nur ein Denkmal und damit nicht in Benutzung sei, die langfristige und intensive Planung des Attentäters an.

Als Kernmotiv nennt Böhmke den Antisemitismus des Attentäters. Allerdings sieht er den Attentäter nicht als einen politischen Gefangenen, sondern in erster Linie als einen Mörder.

Hieran zeigt sich dass RA Böhmke im Gericht nur die individuelle Schuld verhandeln möchte, obwohl diese nicht von der politischen Motivation und der Ausführung der Tat trennbar ist. Damit grenzt er sich von einem Großteil der Nebenklage ab.

Anschließend spricht RA Duvnjak der sich dem Großteil seiner Vorredner*innen anschließt.

RA @raahoff beginnt seinen Plädoyer damit, dass eine erste Einordnung der Tat als „Amoklauf“ oder „Schiksalsschlag“ zunächst verständlich ist, ermöglicht sie doch ein ungestörtes weiteres Existieren aktueller Verhältnisse.

Das StGB – und nicht nur das – gebietet jedoch, die Ideologie hinter einer solchen Tat zu analysieren und Floskeln des Angeklagten zu demaskieren.

Damit soll dieser Ideologie kein Raum geboten werden, sondern sie soll öffentlich zerlegt werden, um Ziele und Motivationen des Angeklagten klären und das Strafmaß bestimmen zu können.

Weiter hält @raahoff fest, dass Antisemitismus, Rassismus und Frauen*feindlichkeit in D verankert sind. Dass der Täter diese Ismen aus der Gesellschaft bezogen hat, stelle die eigenen Lebensentwürfe infrage.

Mit den Worten „Es kann geschehen und folglich kann es wieder geschehen“ (Primo Levi) spricht @raahoff die Kontinuität von eliminatorischem Antisemitismus an.

Zur Frage, ob mit weiteren Taten zu rechnen sei, verweist er auf die Bezugnahme auf Christchurch, außerdem auf das sog. Institut für Staatspolitik (@IfS_dicht), das derzeit etwa die extrem rechte Verschwörungserzählung vom „Großen Austausch“ salonfähig macht und verbreitet.

Entgegen der Angabe des Angeklagten glaubt @raahoff nicht, dass die sog. Flüchtlingskrise 2015 ausschlaggebend für den Entschluss zur Tat gewesen sei.

Für wahrscheinlicher hält er nach der Beweisaufnahme, dass der Täter schon zuvor überzeugter Rassist gewesen sei, der mit Positionen der #noAfD konform gehe.

Mit einem Verweis auf die Sinus-Studie von 1980 erklärt er weiter, dass solche Positionen auch in der sog. Mitte der Gesellschaft verankert seien. Das Jahr 2015 hätte lediglich als Katalysator für den Übergang zum bewaffneten Kampf fungiert.

Dass der Täter ein Einzelgänger gewesen sei, liege nicht daran, dass er aufgrund seiner Überzeugungen ausgegrenzt wurde.

Zum Schluss stellt @raahoff klar, dass das Urteil unabhängig von der Aufarbeitung gesellschaftlicher Bedingungen der Tat ist. Er verweist auf den Schwur von Buchenwald, der außerhalb des Gerichts zu erfüllen sei und schließt mit den Worten: Niemand wird vergessen!

Anschließend verliest @raahoff das Plädoyer einer seiner Mandantinnen. Diese hatte während des #HalleProzess die Wahrnehmung, dass dieser das Gefühl eines „Bringen wir es hinter uns“ vermittelte.

Dabei habe der #HalleProzess andere Aufgaben wie bspw. die Bedingungen der Tat zu verstehen.

Die vom Anschlag betroffenen Menschen sind so – trotz ihrer Betroffenheit – unfreiwillig zu Expert*innen des Anschlags und der dahinter stehenden Ideologie geworden.

Sie ist es leid sich zu fragen warum im #HalleProzess bspw. das Thema der Ideologie und deren globale Einbettung oder Ermittlungsleerstellen von der GBA, vom BKA oder Teilen der Nebenklage ausgeklammert werden.

Diese Ignoranz ist es mitunter, die es dem Rechtsextremismus zu gedeihen ermöglicht. Sie ist darüber enttäuscht dass Stimmen der Nebenklage ausgeschlossen wurden und auch über die Anhörung von wichtigen Sachverständigen erst diskutiert werden musste.

Der #HalleProzess hätte eine Chance sein können Rechtsextremismus nicht kleinzureden oder zu verharmlosen und antisemitische, rassistische und frauenfeindliche Kontinuitäten zu benennen.

Stattdessen musste die Aufarbeitung und die klaren Worte durch ehrenamtliche Rechercheteams, die Nebenklage und damit auch durch die Betroffenen selbst erfolgen.

Als nächstes erhielt eine weitere Nebenklägerin das Wort. Sie sagt, sie habe sich der Nebenklage angeschlossen, da die GBA in ihrer Anklageschrift anfangs die Betroffenen aus der Synagoge nicht als potenzielle Mordopfer aufnahm.

Sie begreift den Angeklagten als Symptom von rechtsextremer Ideologie, die die Gesellschaft durchdringt.

Im Prozess wurde sie regelmäßig daran erinnert, dass „Gesetz“ und „Gerechtigkeit“ nicht dasselbe sind.

Keine der hasserfüllten Verschwörungsmythen des Angeklagten seien neu – „Deutschland weiss das, und ich weiss es auch.“

Sie habe den #9Oktober überlebt, weil die Gemeinde so gut reagiert hat – und niemand sonst.

Auch ist sie wütend dass Aftax I. und Ismet Tekin immer noch nicht als Opfer versuchten Mordes anerkannt werden, obwohl das rassistische Tatmotiv klar ist.

Seit der Teilnahme am Prozess begleite sie Angst und Wut v.a. da das BKA den Zusammenhang von rechten Anschlägen verkannte und nach wie vor verkennt.

Sie wendet sich zum Schluss direkt an die Presse, hält fest, dass der Täter den Prozess als Bühne nutzen will und bittet darum, ihn nicht zu zitieren und nicht Name und Fotos von ihm zu verbreiten.

Sie bereitet darauf vor, dass der Angeklagte das Recht seines letzten Wortes nutzen wird und fordert: „Machen Sie sich nicht zum Komplizen. Genug ist genug!“

@molussia_anders beginnt ihr Plädoyer mit persönlichen Nachrichten, die sie nach dem Anschlag und während des #HalleProzess zugeschickt bekam. Diese verharmlosen den Anschlag, stellten ihre Perspektive infrage und äußerten Erstaunen dass so etwas möglich sei.

Sie führt an dass Deutschland ein Antisemitismus- und ein Rassismusproblem hat. Sie kritisiert ebenfalls dass bspw. die Einzeltäterthese erst von Sachverständigen wie @raeuberhose, @Matthias_Quent und Benjamin Steinitz @Report_Antisem widerlegt werden musste und nicht vom BKA.

Auch die Nebenklage musste das ansprechen was die Mehrheit der Gesellschaft nicht sieht bzw. nicht wahrhaben will. In diesem Kontext bleibt ihr Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert.

Veränderung kommt ihres Erachtens nicht von Untätigkeit und der Verharmlosung dieser gefährlichen Realitäten, sondern braucht Aktion und Courage. „Schweigen ist keine Option!“

Sie spricht davon dass es kein gerechtes, sondern nur ein angemessenes Strafmaß geben kann. Dazu gehört auch dass der Schmerz und das Leid aller Betroffenen (auch juristisch) anerkannt werden muss.

Sie schließt mit einem Appell an die moralische Verpflichtung eines*einer jeden Einzelnen keine Ruhe bei Diskriminierungen zu geben, Zivilcourage zu zeigen und sich für Minderheiten einzusetzen; auch außerhalb der Gerichtssaals.

NK Henkel-Gümbel eröffnet ihr Plädoyer mit den Worten von Rabbiner Abraham Joshua Heschel „meaning beyond absurdity“. Absurd ist, was an 9.10. geschah, es war gegen die Vernunft, gegen den common sense.

„Niemand soll in seinem Leben fürchten. In der Fantasie des Angeklagten wären wir alle tot. Doch wir sind am Leben!“ Die Absurtität werfe immer weitere Fragen auf.

Sie liest aus der Tora Deuteronomium 4.9. „Wir alle tragen Verantwortung nicht zu vergessen; nicht zu vergessen was im Gerichtssaal geschehen ist.“ Wörtern müsse Bedeutung gegeben werden.

Sie erklärt, dass sie sich der Nebenklage angeschlossen habe, weil anfangs die Jüd*innen aus der Synagoge nicht als potenzielle Mordopfer anerkannt wurden. Jetzt seien noch Ismet Tekin und Aftax I. der Ungewissheit überlassen.

Auch habe sie sich der NK angeschlossen aus Verantwortung vor sich selbst: das eigene Leben nicht durch die Ereignisse diktieren zu lassen und das Narrativ mitzugestalten.

Innerhalb der NK haben sich Allianzen gebildet: „Aus Elend erwuchs Solidarität“. Sie weist die Fragen nach möglicher Auswanderung ab und sagt „Wir bleiben hier. Wir machen weiter.“

„Turning evil into good“, das sei die Bedeutung hinter der Absurdität. Kleine Taten zählen, Worte haben Kraft um eine offene und gerechte Gesellschaft durchzusetzen.

Nebenklägerin Pletoukhina spricht von mehreren negativen Folgeerscheinungen nach dem 9.10.. Am verstörendsten aber sei es für sie zu sehen, dass Einige so taten als sei nichts geschehen und vermutet Angst als Hintergrund dessen – davor, zu fragen, zu hinterfragen und erkennen zu müssen, dass aus einem ‚Nie wieder‘ ein ‚Schon wieder‘ geworden ist.

Die Tat reihe sich in ein seit Jahren bestehendes Muster rechten Terrors. Daher sei nicht nur das anstehende Urteil wichtig, sondern insb. das Aufdecken von strukturellen Schieflagen.

Dass Betroffene aus der Synagoge häufig nach ihren Aussagen vor Gericht gefragt wurden, ob sie denn vorhätten in Deutschland zu bleiben, empfand sie als irritierend: Es sollten besser alle gefragt werden, ob sie in solch einem Land bleiben wollen.

Max Privorozki, Vorstand der Jüdischen Gemeinde, sagt dass er sich der NK angeschlossen hatte, weil er die Quelle des Hasses gegen Juden und Jüdinnen ergründen wollte u herausfinden wollte, ob der Attentäter noch weitere Mittäter*innen oder Unterstützer*innen hatte.

Den Ursprung der Radikalisierung des Attentäters sieht er in dessen Familie, welche durch ihre Aussageverweigerung eine weitere Aufklärung der Tat und ihrer Umstände verhindert habe.

RA Scharmer erkennt zuallererst den Mut der Betroffenen an heute im #HalleProzess zu sprechen. Anfangs gibt er noch einmal einen kurzen Überblick was seinem Mandanten am #9Oktober 2019 passiert ist.

Er nennt die Namen der Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt seit den 1990er Jahren. Die @opferberatung hat die Todesfälle ausführlich dokumentiert und aufgearbeitet: https://www.rechte-gewalt-sachsen-anhalt.de/todesopfer/

Das Urteil, welches am 21.12. gesprochen werden soll, bietet in seinen Augen zwei Möglichkeiten: Es kann 1. den Ermordeten ein Gesicht geben (nicht so wie im #NSU-Prozess) und sie damit nicht zu austauschbaren Opfern machen und 2. die Ursachen und Wirkungen des Anschlags benennen. Nur wenn diese klar benannt werden, lassen sich Veränderungen herbeirufen.

Er lobt die bisherige Verfahrensführung, in der es den Betroffenen möglich war ihre Perspektive zu schildern. Trotzdem dürfen sich Gesellschaft und Sicherheitsbehörden nicht von ihrer (Mit-)Schuld reinwaschen.

Abschließend verliest er ein kurzes Statement seines Mandanten, indem dieser den Ausschluss des Attentäters aus der Gesellschaft fordert. Er betont die Irrelevanz von Hautfarbe, Religion o.Ä. bei der Beurteilung von Menschen; wichtig seien nur deren Handlungen.

RA Schulz macht in seinem Plädoyer weitreichende Ausführungen zu Fallbeispielen seit 1972, die zeigen sollen, dass #Halle kein Einzelfall war, besonders nicht in der unsensiblen Behandlung der Opfer durch Behörden, Bürokratie und einzelne Zuständige.

Ein zweiter Schwerpunkt bildet bei ihm die Gefahr, die vom Internet als von ihm bez. „Infrastruktur des Bösen“ ausgehe. Dort fänden sich auf mehreren Plattformen entmenschlichende Inhalte, die ihre User desensibilisieren und zu Gewalttaten „inspirieren“.

Er sieht v.a. die Betreibenden solcher Plattformen in der Pflicht, dagegen vorzugehen, erkennt ein verantwortungsvolles Handeln ihrerseits jedoch als unwahrscheinlich an, da sie profitorientiert arbeiten. Solche Geschäftsmodelle dürften gesetzlich nicht unberührbar bleiben.

RA Hermann zeichnet noch einmal den detaillierten Ablauf des Anschlags nach. Er solidarisiert sich dabei mit den Betroffenen des Anschlags und schließt sich der Forderung der Nebenklage an, die Angriffe auf İsmet Tekin und Aftax I. als Mordversuche zu werten.

Er legt dar, dass die Aufklärung nicht nur repressiv, sondern auch präventiv vorgehen müsse. Das hieße bspw. dass eine Auseinandersetzung mit der extrem rechten Szene und deren Codes und Symboliken erfolgen müsse.

RAin Blasig-Vonderlin schließt sich ebenfalls den Forderungen der NK bzgl. İsmet Tekin und Aftax I. an. Sie spricht sich ebenfalls gegen eine Pathologisierung des Attentäters aus. Ihr Mandant kann aufgrund seiner Traumatisierung weiterhin nicht am #HalleProzess teilnehmen.

Sie führt weiter aus, dass die Taten des Attentäters alle etwas angehen würden und dass man im Nachhinein dieses Anschlags nicht sagen könne, man habe nicht gewusst was auf einen zukomme bzw. was aus ihm resultiere. Man habe die Pflicht Widerspruch einzulegen.

RA Siebenhühner, der zwei Polizist*innen vertritt, hat sich offenbar zur Aufgabe gemacht, seine Mandant*innen aus der von Teilen der NK vielfältig geübten Kritik zu exkludieren, indem er sie als „stille Helden“ des #9Oktober bezeichnet.

Er bezeichnet ihr Handeln als „schnell, selbstlos, besonnen“ – genau diese Eigenschaften jedoch ließ der Großteil der diensthabenden Sicherheitskräfte vermissen, wie etliche Zeug*innen zuvor beschrieben.

Die im #HalleProzess geäußerte Kritik am Polizeieinsatz halte er für überzogen, sie „spalte die Gesellschaft“. Siebenhühner scheint dabei zu ignorieren, dass Zeug*innen ihre Kritik konstruktiv formulierten und häufig betonten: „Das können Sie besser!“

Dass die Sicherheitskräfte vor dem #9Oktober keine Ahnung von jüd. Religion hatten, will Siebenhühner nicht problematisieren, sondern durch das „Neutralitätsgebot“ der Polizei rechtfertigen. Damit stellt er sich der Möglichkeit einer Aufarbeitung und Reflexion in den Weg.

Es verwunderte daher nicht, dass zahlreiche Besucher*innen während seiner Einlassung den Sitzungssaal verließen.

RA Günther, der ebenfalls Polizist*innen vertritt, schließt sich der Anklageschrift der GBA weitestgehend an, pocht aber auf mehr Beachtung der psychischen Folgeerscheinungen seiner Mandant*innen.

Iona B. ergreift das Wort. Sie sagt, sie habe sich der Nebenklage angeschlossen, weil sie verstehen wollte, wie es zu dieser Tat kommen konnte. Sie habe Bezugspunkte zur Region, in der der Täter aufgewachsen ist und fragt sich: „Wer von denen, mit denen ich aufgewachsen bin, hätte die Tat ebenso durchführen können?“ Selbstkritisch fragt sie weiter, wo sie selbst geschwiegen und möglicherweise dazu beigetragen habe, dass ein Nährboden für solch eine Ideologie gedeiht. – Das sollten wir uns alle fragen.

RA Goldbach hat das letzte Wort der Nebenklage. Er weist darauf hin, dass der Täter zwar in Gewahrsam und entwaffnet ist, dass aber ein erleichtertes Aufatmen fehl am Platz sei, da die Gefahr weiterer Anschläge nicht gebannt sei.

Er verweist dazu auf den akt. Nürnberger Fall: Dort wurde ein junger Mann verurteilt, der einen rechten Terroranschlag plante und sich dazu ausführlich über das Halle-Attentat informierte.

Er steht in Verbindung mit der rechten Terrorgruppe „Feuerkrieg Division“: https://taz.de/Terrorprozess-in-Nuernberg/!5736761/

RA Goldbach sieht den Anschlag erst dann als gescheitert an, wenn sich die „Vollendung“ des Anschlags nicht realisiert, d.h. auch potenzielle Nachahmer*innen verhindert werden, die das „Werk“ des Attentäters „zu Ende bringen“.

Dazu brauche es eine starke Zivilgesellschaft, die in der Verantwortung steht, die Ausführung weiterer Anschläge zu verhindern.

Ein weiteres Mittel für die Terrorbekämpfung sieht er jedoch auch in einer „besseren Ausstattung“ der Polizei, die, so bemerkt er apologetisch, insgesamt „eine gute Arbeit mache“.

Damit sind die Schlussplädoyers der Nebenklage beendet. Am morgigen 25. Prozesstag werden wir weiter berichten: Dort sollen die Schlussplädoyers der Verteidigung und des Attentäters folgen, bevor am 21.12.2020 die Urteilsverkündung folgt.

Vielen Dank auch heute wieder an die Kundgebung vor dem Landgericht, die heute von @HalggR organisiert wurde.