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Wozu erinnern?

Zum 9. Oktober 2022

Vor drei Jahren, am 9. Oktober 2019, erschoss ein Rechtsterrorist in Halle zwei Menschen und verletzte viele weitere, nachdem sein Angriff auf die zu Yom Kippur in der Synagoge feiernden Jüdinnen gescheitert war. Sein nächstes Ziel war ein Döner-Laden; in einem seiner zum Anschlag veröffentlichten Dokumente heißt es außerdem, er plante zunächst, eine Moschee oder ein ›Antifa-Kultur-Zentrum‹ zu stürmen, entschied sich aber dann doch für die Synagoge, weil er die Juden als Ursache der von ihm ausgemachten Probleme sieht.

Die Erinnerung an den Anschlag in den letzten beiden Jahren hat ein sehr zersplittertes Bild gezeigt; ähnlich ist es den Ankündigungen zufolge für dieses Jahr zu erwarten. Das heißt, das Gedenken oder Erinnern hat jeweils ganz verschiedene Bedeutungen oder Funktionen. Daraus ergibt sich die Frage: Wozu dient das Erinnern? Oder auch: Was soll damit erreicht werden? Welche Funktion hat es? Was ist das Ziel?

Öffentliche Erinnerung hat immer einen Grund, ein Ziel oder eine Funktion; es ist immer eine Instrumentalisierung. Wofür also ist es gerechtfertigt, die Erinnerung an den Anschlag zu instrumentalisieren? Die Antwort darauf lautet: Damit Ähnliches nicht geschehe, nicht sich wiederhole.

Wie kann Erinnerung dazu beitragen, Denken und Handeln so einzurichten, dass ein solcher Anschlag oder etwas Ähnliches sich nicht wiederholt, nicht noch einmal geschieht? Eine Erinnerung, die in diesem Sinne wirksam werden soll, muss auf die Auseinandersetzung mit der politischen Situation der Gegenwart bezogen sein. Es geht also um den Inhalt der Erinnerung: Vermag das, was gesagt und getan wird, einen Anstoß zu geben, in die gegenwärtige Situation einzugreifen, den Versuch zu unternehmen sie zu verändern?

Es sind dabei zwei Dimensionen voneinander zu unterscheiden, einmal die politischen und institutionellen Bedingungen innerhalb des bestehenden gesellschaftlichen Systems, die solche Taten möglichst verhindern oder zumindest unwahrscheinlich machen sollen, und zum anderen die Voraussetzungen für die in dem Anschlag zum Ausdruck gekommene ideologischen Elemente, die in diesem System selbst liegen.

Erinnerung erscheint dann in drei Formen.

Das offizielle Erinnern hat die Form eines zeremoniellen Gedenkens: Die politische Klasse zelebriert Gedenkveranstaltungen als Ritual — ein routiniertes, leeres Gedenken ohne jede inhaltliche Auseinandersetzung mit den Hintergründen und Ursachen von rechtem Terror, Antisemitismus und Rassismus. Diese Form des Ritualismus als Gedenken ist letztlich dem Geschehenen gegenüber gleichgültig, dient aber der eigenen Identitätskonstruktion, der Selbstbestätigung als politische Klasse und der Legitimierung des bestehenden politischen Systems. Zusätzlich schafft die politische Klasse noch einige Stellen und Förderprogramme für zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechts.

Das zivilgesellschaftliche Erinnern erscheint dann auch als komplementäre Form zum offiziellen Erinnern. Auch dabei werden ritualisierte Akte des Gedenkens zelebriert, nur auf andere Weise, erklärtermaßen voller Anteilnahme und Solidarität. Oft ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen von Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus und rechtem Terror gar nicht vorhanden oder beschränkt sich auf das Anführen mangelnder Sichtbarkeit und Repräsentation. Dementsprechend werden Forderungen nach mehr Sichtbarkeit, Repräsentation und Beteiligung und nach einem sensibleren und sorgfältigeren Umgang der staatlichen Institutionen, der Justiz- und Sicherheitsapparate mit rechter Gewalt, Antisemitismus und Rassismus erhoben.

Dazu findet hier, ebenso wie beim staatlichen Gedenken, oft eine Aneignung jüdischer oder teilweise auch türkischer, arabischer oder islamischer kultureller Elemente statt, im Sinne einer Sichtbarmachung kultureller Vielfalt und einer im kulturellen und identitären Sinne verstandenen Solidarität. Die auch kulturelle Identifikation mit den Opfern, Überlebenden und Betroffenen dient in beiden Fällen der Schaffung einer Identität als wiedergutgewordene Deutsche, die zugleich eine Abwehr der Schuld und der Auseinandersetzung mit ihren Ursachen ist. Darin überschneiden sich die offiziell staatlichen und zivilgesellschaftlichen Formen des Erinnerns: In ihnen geht es vor allem um die Darstellung statt um die Auseinandersetzung, die Kritik und die Veränderung, sie bleiben Gedächtnistheater, Erinnerung als eine andere Form des Vergessens.

Was wäre dann eine Form des Erinnerns, die als Kritik wirksam werden kann? Erinnerung als Kritik geht aus von der Solidarität mit allen Opfern und mit den Überlebenden. Sie hört die Forderungen der Überlebenden und nimmt sie solidarisch auf. Der Inhalt dieser Forderungen besteht vor allem in der Einforderung von Auseinandersetzungen der Mehrheitsgesellschaft mit den Hintergründen rechten Terrors und rechter Gewalt. Das wäre an sich so selbstverständlich, dass es keiner Forderung danach bedürfte, aber dennoch findet es nur sehr wenig statt. Wenn Kritik und Veränderung irgend wirksam werden sollen, kann sie nicht nur von den Überlebenden übernommen werden und ihnen überlassen bleiben. Die Kritik und die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die rechte und autoritäre Ideologien hervorbringen ist eine Verpflichtung, die für alle Mitglieder dieser Gesellschaft aus der Erinnerung erwächst.

Das bedeutet, ein bloßes Gedenken, das nur auf ein Sichtbarmachen beschränkt bleibt und nicht auf die Auseinandersetzung mit der Sache selbst gerichtet ist, bleibt affirmativ und ist nicht politisch. Nur eine Erinnerung, die auf die Auseinandersetzung mit der politischen Situation der Gegenwart bezogen ist, entspricht der Verpflichtung zu Kritik und Veränderung die aus dem Erinnern hervorgeht.

Walter Benjamin spricht von der Gefahr, die der Erinnerung sowohl in ihrem Bestand als auch ihren Empfängern droht: »sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben«. Angesichts dieser Gefahr der Vereinnahmung für das bestehende Herrschaftssystem geht es ihm zufolge darum, sich der Erinnerung im Augenblick dieser Gefahr zu bemächtigen. Sich der Erinnerung zu bemächtigen heißt, einen Zusammenhang herzustellen zur politischen Situation der Gegenwart und die Erinnerung als ein Element zu verstehen, welches das scheinbar unaufhaltsame Andauern der bestehenden Verhältnisse aufzusprengen vermag.

Der Augenblick der Gefahr, die Erinnerung an den Anschlag in Halle an das herrschende System zu verlieren, besteht schon seit drei Jahren und noch immer im Hier und Jetzt. Dabei zeigt sich in den gegenwärtigen Krisen gerade die Gegenwart der Ursachen des Vergangenen, das Fortbestehen der gesellschaftlichen Voraussetzungen autoritärer Potentiale und faschistischer Bewegungen. Hier zeigt sich die Verbindung von Erinnerung und der Auseinandersetzung mit den Bedingungen für rechte und autoritäre Ideologien in der Gegenwart unmittelbar. Die Gegenwart der gesellschaftlichen Voraussetzungen schlägt immer mehr auch in die Gegenwart der unmittelbaren politischen Voraussetzungen faschistischer Bewegungen um. Gerade hier gilt es, die Erinnerung an rechte Gewalt und rechten Terror dem Bestehenden zu entreißen und sie dem kapitalistischen Realismus entgegenzustellen, der die fortwährende Anwesenheit von deren gesellschaftlichen Ursachen bedeutet.

Die Krisen verdichten sich. Die ökonomischen, ökologischen und geopolitischen Krisen wirken sich auch hier, im bisher so sicher geglaubten Deutschland, als soziale Krise für immer mehr Menschen aus. Nach den ökonomischen und sozialen Effekten der Pandemie zeigen sich nun mit der Energiekrise und der Inflation die ökonomischen Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und zur gleichen Zeit die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels und der ökologischen Zerstörungen. Die soziale Ungleichheit nimmt dabei ständig weiter zu. Das liegt objektiv im kapitalistischen Gesellschaftssystem begründet, das ja ein dauernder Mechanismus der Umverteilung des Reichtums von der produzierenden Klasse zur Klasse der Eigentümer ist. Gerade dieser Mechanismus der Ausbeutung ist aber verschleiert als rechtliches Verhältnis eines freiwilligen und gleichen Tauschs von Staatsbürgern, die vor dem Gesetz gleich sind. Diesem scheinbar so freien und gleichberechtigten Austausch von Arbeitskraft gegen Lohn liegt aber ein ökonomisches Zwangsverhältnis zu Grunde, Marx bezeichnet es als den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse. Auf diesem ökonomische Zwangsverhältnis beruht die ökonomische Ausbeutung und die andauernde Umverteilung des Reichtums von Unten nach Oben, wobei zugleich die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört werden. Dieses ökonomische Zwangsverhältnis bedeutet aber auch einen Zwang zur Anpassung für die Einzelnen. Als Einzelne sind Alle dazu gezwungen, sich diesem Zwang zu unterwerfen und ihre Arbeitskraft zu verkaufen zu Bedingungen, über die sie nicht zu entscheiden haben. An dieser Stelle endet die Demokratie in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Für die Einzelnen bedeutet das, »sie müssen eben jene autonome Subjektivität durchstreichen, an welche die Idee von Demokratie appelliert, können sich selbst erhalten nur, wenn sie auf ihr Selbst verzichten.« Darin sieht Adorno die Ursache für das autoritäre und rechte Potential: »Die Notwendigkeit solcher Anpassung, die zur Identifikation mit Bestehendem, Gegebenem, mit Macht als solcher, schafft das totalitäre Potential.«

In der Krise kommt ein weiteres Moment dazu. Die Mühen der Anpassung erweisen sich als unzureichend, die eigene soziale und ökonomische Position aufrechtzuerhalten. Die Unzufriedenheit und die Wut, die der Zwang zur Anpassung ohnehin schon hervorruft, wird noch einmal verstärkt, wenn sich die aufgewendeten Anstrengungen als ungenügend herausstellen. Wenn dann keine Einsicht in den Mechanismus der Ausbeutung besteht, der in der ökonomischen Ordnung angelegt ist, ist die Tendenz zur ideologischen Projektion stark. Die Verschiebung der Schuld an der miserablen und als erniedrigend empfundenen Lage von der politisch-ökonomischen Organisationsform auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen ist das Grundmuster der ideologischen Verarbeitung gesellschaftlich verursachter Krisenerscheinungen.

Die verschiedenen ideologischen Verarbeitungsformen unterscheiden sich in der Art und Weise der Schuldverschiebung. Der Antisemitismus sieht in den Juden als Gruppe eine geheime Macht verkörpert, womit sie als Schuldige für ökonomische Ausbeutung, Kriege, für die sogenannte »Macht des Geldes«, für den Niedergang und den Verlust traditioneller Einrichtungen und Werte und für eine Vielzahl politischer, sozialer und kultureller Konflikte angesehen werden. Der unverstandene ökonomische Zwang des Kapitals, die Macht des Geldes als Ausdruck abstrakter Arbeitszeit, den Reichtum im Kapitalverhältnis ständig von Unten nach Oben zu verteilen, und alle möglichen Folgen, die sich aus diesem Verhältnis ergeben, werden in einer bestimmten Gruppe von Menschen zugeschrieben und in ihnen personalisiert. In den Elementen des Antisemitismus von Horkheimer und Adorno heißt es daher: »Der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifischen ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion.«

Der Rassismus bestimmt Rassifizierte dagegen als Menschen, die einem anderen, tendenziell geringerwertigen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Raum angehören und die daher nicht die gleichen Rechte und den gleichen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen beanspruchen können, wie die Rassisten selbst. Daraus wird einerseits die Rechtfertigung der Überausbeutung abgeleitet, der rassifizierte Menschen unterworfen sind. Andererseits wird daraus auch die Gefahr konstruiert, die durch Einwanderung und Asyl drohen soll, wenn vermeintlich zu viele Menschen aus anderen Gegenden oder Kulturen nach Deutschland und Europa kommen würden und die soziale, ökonomische und kulturelle Ordnung dadurch zerstört würde. Auch hier findet auf eine andere Art eine Personalisierung gesellschaftlich verursachter Krisenerscheinungen, sozialer und ökonomischer Missstände, statt, die auf rassifizierte Menschen zurückgeführt werden.

Der Antifeminismus sieht im Feminismus eine Idee, die traditionelle gesellschaftliche und kulturelle Ordnungen zerstört und die daher schädlich, abzulehnen und zu bekämpfen sei. Verbunden ist das oft mit ähnlichen Schuldzuweisungen an andere Emanzipationsbewegungen, insbesondere linke und ökologische Gruppen und Parteien. Diese Schuldprojektionen haben eine lange Geschichte im bürgerlichen Konservatismus und in der politischen Rechten und sind eng mit antisemitischen Projektionen verbunden. Auch in diesem Komplex geht es um personalisierende Schuldzuweisungen für bestimmte, gesellschaftlich verursachte Erscheinungen, die als unerwünscht und schädlich angesehen werden, an bestimmte Personengruppen.

All das sind falsche, ideologische Verarbeitungsformen der destruktiven oder als destruktiv empfundenen Folgen der bestehenden politisch-ökonomischen Verhältnisse und es findet genau jetzt inmitten der Krisen statt, in Deutschland, in Europa, in Russland, in der Türkei, in China, in den USA, in Brasilien, in Indien, in Syrien, im Iran, in Afghanistan und anderswo auf der Welt, wo autoritäre, rechte oder faschistische Bewegungen, Parteien oder Regierungen erfolgreich sind.

Dagegen wirkt die Organisierung der arbeitenden Klassen, die die durch das politisch-ökonomische System geschaffene Vereinzelung zu durchbrechen vermag und es schafft das kapitalistische System der systematischen Ausbeutung der arbeitenden Menschen und der natürlichen Lebensgrundlagen zu durchschauen und zu kritisieren. Dadurch wäre es möglich, eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse hin zu einer wirklichen Demokratisierung aller Lebensbereiche, der Produktion und der Reproduktion, in der alle über alles kollektiv bestimmen und alle genug zum Leben haben. Erste Schritte dafür wäre die Schaffung kollektiv verwalteter, kostenfreier, öffentlicher Infrastrukturen und sozialer Dienste. Wird der ökonomische Zwang zur Anpassung gemindert indem die kollektive Selbstverwaltung in freiem Zusammenschluß der Produzentinnen ausgeweitet wird, gehen die autoritären, rechten und faschistischen Potentiale zurück.

Aktuell finden Kämpfe statt, die sich auf universale Rechte der Freiheit, der Selbstbestimmung, der Gleichberechtigung und der Menschenwürde berufen. Die Erinnerung gebietet es auch, mit diesen Kämpfen solidarisch zu sein und diese Kämpfe überall dort zu führen, wo diese Rechte verletzt werden.

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»Das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie«

»Daß der Faschismus nachlebt; daß die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete, rührt daher, daß die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten. Er kann nicht wesentlich aus subjektiven Dispositionen abgeleitet werden. Die ökonomische Ordnung und, nach ihrem Modell, weithin auch die ökonomische Organisation verhält nach wie vor die Majorität zur Abhängigkeit von Gegebenheiten, über die sie nichts vermag, und zur Unmündigkeit. Wenn sie leben wollen, bleibt ihnen nichts übrig, als dem Gegebenen sich anzupassen, sich zu fügen; sie müssen eben jene autonome Subjektivität durchstreichen, an welche die Idee von Demokratie appelliert, können sich selbst erhalten nur, wenn sie auf ihr Selbst verzichten. Den Verblendungszusammenhang zu durchschauen, mutet ihnen eben die schmerzliche Anstrengung der Erkenntnis zu, an welcher die Einrichtung des Lebens, nicht zuletzt die zur Totalität aufgeblähte Kulturindustrie, sie hindert. Die Notwendigkeit solcher Anpassung, die zur Identifikation mit Bestehendem, Gegebenem, mit Macht als solcher, schafft das totalitäre Potential. Es wird verstärkt von der Unzufriedenheit und der Wut, die der Zwang zur Anpassung selber produziert und reproduziert.« Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, 1959, in Erziehung zur Mündigkeit, 1971/2013: 22