Selbstverständnis

Was passierte am 9. Oktober 2019?

Am 9. Oktober 2019 erschoss ein rechtsterroristischer Attentäter in Halle zwei Menschen, Jana L. und Kevin S. Er versuchte 69 weitere zu töten. Sein erstes Ziel war die Synagoge der Jüdischen Gemeinde zu Halle am Wasserturm. Darin hatten sich 52 Menschen versammelt, die der Attentäter ermorden wollte. Am 9. Oktober 2019 war Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag im Jahr, der in der Synagoge gefeiert wurde. Der Täter beschoss die Tür, konnte sich aber keinen Zugang zum Gelände der Synagoge verschaffen. Als dies fehlschlug, erschoss er Jana L., die ihn auf der Straße angesprochen hatte. Schließlich gab er den Angriff auf die Synagoge auf und fuhr mit seinem Auto auf die Ludwig-Wucherer-Straße. Er erklärte in einem Livestream, dass er vorhabe, von ihm als migrantisch verstandene Personen zu töten. Im Kiez-Döner, heute Tekiez, ermordete er Kevin S., der gerade sein Essen bestellte. Er versuchte, auch weitere Personen und Passant*innen zu erschießen. Auf der Magdeburger Straße versuchte er, zwei Schwarze Personen zu überfahren und verletzte dabei eine von ihnen. Er flüchtete mit dem Auto nach Wiedersdorf, wo er zwei weitere Personen durch Schüsse schwer verletzte. Der Täter erpresste ein neues Auto und wurde schließlich gestoppt und festgenommen. Er wurde am 21. Dezember 2020 zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.

Wer sind wir?

Wir haben uns Anfang 2020 nach einem offenen Aufruf in Reaktion auf den Anschlag zusammengefunden. Gegenwärtig sind wir Menschen aus Halle, die nicht direkt von dem Anschlag in Halle betroffen waren und die nicht selbst von Rassismus oder Antisemitismus betroffen sind. Hinter der Zusammensetzung der Gruppe steht keine Absicht. Uns eint eine antifaschistische Position. Interessierte können sich gern der Gruppe anschließen.

Wir gaben uns zunächst den Namen „Initiative 9. Oktober Halle“, da er uns passend schien für unseren Ansatz, eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Perspektiven und Dimensionen des Anschlags zu fordern. Uns wurde gespiegelt, dass dieser Name nahelegt, wir wären eine Initiative von Betroffenen und Überlebenden des Anschlags oder würden konkrete/direkte Betroffenenarbeit leisten. Da wir diesen falschen Eindruck nicht erwecken wollen, haben wir unseren Namen zu „AK 09. Oktober Halle“ geändert, wobei das „AK“ für Arbeitskreis, aber v.a. für Analyse und Kritik stehen soll.

Warum haben wir uns gegründet?

Die Motivation für die Gründung dieser Gruppe ergab sich, als nach dem Anschlag in Halle deutlich wurde, wie wenig eine politische Auseinandersetzung mit den ideologischen Hintergründen und den gesellschaftlichen Voraussetzungen des Anschlags stattfindet. Ein zentrales Anliegen war es dabei, sich kritisch gegen die vorherrschende Darstellung eines Einzeltäters zu wenden und auf die Kontiniutät rechter Gewalt hinzuweisen. Von Beginn an ging es uns auch um eine Kritik des völlig unzureichenden Umgangs der politisch Verantwortlichen mit dem Anschlag und um eine Kritik an dem staatlichen Gedenken.

Was wollen wir?

Wir wollen dazu beitragen, die politische Auseinandersetzung zu führen, die notwendig ist, um rechte Gewalt zu beenden. Einer unserer Aus­gangs­punkte ist dabei die Perspektive der Betroffenen und Überlebenden des Anschlags im Besonderen und von rechter Gewalt im Allgemeinen, hinter den eine antifaschistische Analyse und Praxis nicht zurückfallen darf.    Es besteht dabei einerseits die Schwierigkeit, dass von dem Anschlag Personen mit sehr verschiedenen Hintergründen betroffen waren, deren Perspektiven nicht einfach in Übereinstimmung zu bringen sind und die es daher in ihrer jeweiligen Besonderheit zu beachten gilt. Andererseits kann es nicht nur den Betroffenen überlassen werden, sich gegen rechte Gewalt zu wenden und sich mit deren gesellschaftlichen Voraussetzungen auseinanderzusetzen. Es bedarf vielmehr einer Auseinandersetzung, die von der gesamten Gesellschaft zu führen ist, insbesondere auch von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Dabei geht es um eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse in einer solchen Weise, dass rechte, antisemitische, rassistische und antifeministische Ideologien nicht mehr beständig und systematisch reproduziert werden. Von einer Aufarbeitung rechter Gewalt kann erst dann gesprochen werden, wenn die gesellschaftlichen Voraussetzungen rechter Potentiale in den Blick geraten und bekämpft werden bis sie letztendlich nicht mehr bestehen.

Von zentraler Bedeutung ist es aus unserer Sicht, die verschiedenen ideologischen Elemente, die im radikal rechten Weltbild des Täters miteinander verbunden sind und die auch im Verlauf des Anschlags deutlich wurden — das sind insbesondere Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus — in ihrem Verhältnis zueinander und zu den gesellschaftlichen Verhältnissen zu analysieren und zu kritisieren, um diese entsprechend verändern zu können. Das stellt die Auseinandersetzung nach dem Anschlag vor die besondere Herausforderung, dieses Verhältnis der Ideologien in ihren widersprüchlichen Momenten zueinander zu berücksichtigen und mit den daraus hervorgehenden Kontroversen, Widersprüchen und Konflikten umzugehen. Diese Widersprüche treten hervor, wenn in politischen Auseinandersetzungen das Vorgehen gegen eine Form dieser Ideologien, wie etwa Rassismus, gegen das Vorgehen gegen eine andere Form dieser Ideologien, wie Antisemitismus, gestellt wird. Die Aufgabe, zu der wir beitragen möchten, besteht darin, Formen der Solidarität zu finden, die das Verhältnis der Ideologien zueinander und ihren Zusammenhang in den gesellschaftlichen Verhältnissen erkennen. Es kann nur gelingen, umfassende solidarische Verbindungen herzustellen, wenn diese Ideologien in ihrem Verhältnis zueinander gesehen werden, wie es von den wirklichen gesellschaftlichen und historischen Bedingungen bestimmt wird. Wenn der Zusammenhang der verschiedenen Ideologien in den unterdrückenden und ausbeutenden gesellschaftlichen Verhältnissen erkannt wird, wäre die Herstellung solidarischer Verbindungen möglich, die das Gegeneinanderstellen im Vorgehen gegen je einzelne ideologische Elemente überwinden kann.

Es zeigt sich sehr deutlich, dass in der Arbeit des Erinnerns und der politischen Auseinandersetzung nicht einfach bestehende Formen und Konzepte übernommen und auf die Situation nach dem Anschlag in Halle übertragen werden können. Es müssen neue Formen und Konzepte gefunden werden, die dazu geeignet sind, die verschiedenen Perspektiven und Dimensionen zu berücksichtigen und einzubeziehen, aber auch dazu, Widersprüche anzuerkennen, die sich nicht einfach überwinden lassen.

Eine Erinnerung, die die gesellschaftlichen Widersprüche nicht überdecken, sondern aufdecken will, und die deshalb in der Auseinandersetzung die besondere Konstellation der ideologischen Reaktionsweisen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse genau analysiert und von dieser Grundlage her kritisiert, ist für uns ausschlaggebend.

Was sehen wir als unsere Aufgaben?

Wir sehen Aufgabenfelder unserer politische Arbeit darin, die ideologischen Hintergründe und die gesellschaftlichen Voraussetzungen rechter Gewalt zum Thema öffentlicher Auseinandersetzung zu machen. Ebenso geht es uns darum, auf die damit verbundenen Widersprüche, Konfliktfelder und Kontroversen einzugehen und nach Wegen des Umgangs damit zu suchen. Wir möchten nicht nur einmal im Jahr daran erinnern, was geschehen ist, sondern versuchen, zur notwendigen stetigen Analyse und Kritik der Bedingungen autoritärer Potentiale beizutragen.
Was haben wir bisher gemacht?
Wir haben Kundgebungen zu verschiedenen Anlässen organisiert, wobei wir mit anderen Gruppen und Einzelpersonen zusammengearbeitet haben. Wir haben den Prozess gegen den Täter beobachtet und von dort berichtet. Wir haben eine Broschüre geschrieben, die einen ersten Versuch der politischen und ideologischen Einordnung des Anschlags von Halle und einige Beobachtungen und Analysen zum Prozess gegen den Täter beinhaltet. Wir haben mit anderen zusammen eine Vortragsreihe zur Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten rechter Ideologien organisiert und auch selbst Vorträge gehalten. Wir haben eine Lehrveranstaltung der Burg Giebichenstein, in der sich mit dem Anschlag auseinandergesetzt wurde, begleitet. Wir haben Redebeiträge und Artikel geschrieben und sind in sozialen Medien aktiv.