Tag 20 im Halle-Prozess

Wir sind heute wieder in MD und berichten vom #Halleprozess. Es ist wichtig, dass die Aufmerksamkeit jetzt nicht abnimmt. Sprecht über das Verfahren, hört gemeinsam den Podcast von @HalggR + @radiocorax und folgt den Berichten von @valentinhacken_+ @democ_de

Heute am 20. Tag im #HalleProzess wird Benjamin Steinitz von RIAS über die aktuelle Situation jüdischer Gemeinden und jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Attentat sprechen.

Benjamin Steinitz konnte für RIAS aufgrund von durchgeführten Befragungen in Sachsen-Anhalt und weiteren Bundesländern seit Juli 2019 umfangreich Auskunft geben über die Situation jüdischer Menschen und Gemeinden in Hinblick auf erlebten Antisemitismus. Nachlesbar unter: https://www.report-antisemitism.de/documents/2020-04-28_rias-bund_Problembeschreibung-Antisemitismus-in-Sachsen-Anhalt.pdf

Zunächst erklärte er, dass es sich bei antisemitischen Straftaten um Botschaftstaten handelt. Sie folgen einer auf Ungeichheit basierender Ideologie und sind häufig nicht durch Straftatbestände abgedeckt.

Auswirkungen antisemitischer Straftaten auf den Alltag jüdischer Menschen zeichnen sich nach Steinitz‘ Befunden durch verstärkte Exklusionserfahrungen aus, sie wirken in der gesamtem Gruppe nach und bewirken Trivialisierung der Taten bei den Betroffenen und das Bestreben, weniger sichtbar zu sein.

Auch dadurch bestehe eine Diskrepanz in der Wahrnehmung jüdischer und nicht-jüdischer Menschen, wie sich Antisemitismus in der Gesellschaft manifestiert.

Es zeichneten sich erhebliche Hemmungen bei Betroffenen ab, antisemitische Straftaten zur Anzeige zu bringen wegen fehlendem Vertrauen in die Polizei (sekundäre Viktimisierung), möglichem unsensiblen Umgang mit Daten und hohem bürokratischem Aufwand.

Steinitz: „Antisemitische Weltsichten zielen auf die Vernichtung von Juden und Jüdinnen.“ Das zeige sich nach 1945 weiterhin kontinuierlich an den Anschlägen gegen jüdisches Leben.

Aus @RonenSteinkes Buch zählt er minutenlang alle 27 dokumentierten antisemitischen Anschläge seit Bestehen der BRD bis zum #halleanschlag auf.

Für jüdische Menschen kam also der Anschlag am 9. Oktober nicht sonderlich überraschend. Auch in der Folge kam es zu mehreren antisemitischen Vorfällen, zB wurden Gedenkakte gestört, die Befreiung des Angeklagten gefordert und in Halle kam es zu Drohbriefen und Platzierungen eines Hakenkreuzsymbols vor dem jüdischen Gemeindezentrum.

Jüdische Gemeinden seien nach dem 9.Oktober 2019 besorgter, Gottesdienstbesucher:innen gingen tendenziell zurück. Dafür stieg das Interesse nicht-jüdischer Menschen, Synagogen zu besuchen. Dies band in Kombination mit erhöhten Sicherheitsvorkehrungen jedoch zahlreiche Kapazitäten.

Steinitz spricht von „divergierenden Sicherheitsbedenken“ zwischen jüdischen Gemeinden und Behörden und führt Holger Stahlknecht als Beispiel verächtlichmachendem politischen Handelns an.

Steinitz schließt seine umfangreiche Darlegung: „Der Botschaftscharakter dieser Tat wird durch die vielstimmige Nebenklage konterkariert.“

Erhebliche Solidarisierungsprozesse nach der Tat, die besonders aus dem inner- und auch außereuropäischen Ausland kamen, hätten eine empowernde Wirkung für die jüdische Community.

Wir möchten auch noch einmal darauf hinweisen, dass es im Gerichtssaal immer wieder durch Unwissen und fehlendes Problembewusstsein problematische Situationen gibt.

Beispielsweise wenn die Vorsitzende Richterin von einem diffusen „Wir“ und „Ihr“ spricht oder antisemitische Stereotypen nicht erkannt werden.

Zuletzt sagte Prof.Dr.Leygraf als Sachverständiger im Bereich Neurologie und forensische Psychologie aus.Die Darstellung der Verteidigung, der Angeklagte habe aufgrund einer Migräne mit Aura Bewusstseinsstörungen gehabt während seiner Tat, wies er als“völlig unwahrscheinlich“aus.

Im weiteren Verlauf werden mehrere Adhersionsanträge von Geschädigten aus der Nebenklage auf Schmerzensgeld verlesen.

Die Beweisaufnahme ist mit dem heutigen Prozesstag noch nicht abgeschlossen. Die Reihen des Besucher:innenraums waren heute schon sichtlich leerer. Es ist jedoch wichtig, dass auch die letzten Prozesstage kritisch begleitet werden.

Außerdem meldete sich @molussia_anders zu Wort, um darauf aufmerksam zu machen, dass eine zuvor vom Angeklagten getätigte antisemitische Äußerung nicht mit einem einfachen „Das waren nur drei Worte“ abgetan werden dürfe. Im Gegenteil müssten solche Einwürfe für die historische Nach- und Aufarbeitung stets dokumentiert werden.

Es ist traurig, dass es die Initiative von @RPietrzyk und @molussia_anders braucht,um dafür zu sorgen, dass dies ernst genommen wird.Vor nur wenigen Stunden hatte Herr Steinitz versucht, dem Gericht dazulegen, warum es unbedingt nötig ist, Antisemitismus klar und hart zu begegnen.