Heute ist der 18. Verhandlungstag des #HalleProzess. U.a. wird heute das psychiatrische Gutachten zur Schuldfähigkeit des Attentäters erwartet. Wir berichten in den Pausen hier im Thread.
Ebenfalls möchten wir unsere Solidarität mit den Betroffenen des Anschlags in #Wien ausdrücken: https://twitter.com/Bini_Guttmann/status/1323433720792129536
Der erste Zeuge im #HalleProzess ist als Sachverständiger geladen. Dieser nahm die rechtsmedizinische Untersuchung des Attentäters am Tag des Anschlags selbst vor. Im Zuge dessen stellte er sein Gutachten zu den Verletzungen des Angeklagten vor.
Als zweiter Zeuge sagte heute ein weiterer Betender aus der Synagoge aus, der auch 2019 zu Jom Kippur aus Berlin nach Halle kam, um das Fest in ruhigerer Atmosphäre abzuhalten.
Eigentlich wollte er nicht als Zeuge aussagen, nachdem er jedoch einen Verhandlungstag besuchte, wurde ihm die Bedeutung der Aussagen durch die Betroffenen bewusst. Mit seiner Aussage wollte er auch gegen Ende des #HalleProzess die Perspektive der Betroffenen öffentlich artikulieren.
Zunächst schildert er seine Erinnerungen an Jom Kippur. Positiv erinnert er sich an einen Spaziergang am Abend des 8.10.2019.
Am Tattag dachte er zunächst an einen Streich, oder dass jemand den Betenden Angst machen wolle. Nachdem er die Lage realisierte, versuchte er den Anderen weiterhin Hoffnung zu geben.
Er half auch die hintere Tür zu verbarrikadieren und beobachtete das Friedhofsgelände durch ein Fenster. Der Zeuge schildert, dass er am Fenster zwei Mal die Druckwellen der Sprengkörper spürte.
Für ihn war es eine schwierige Entscheidung die Synagoge zu verlassen, da dass gegen die Gebote der Thora an Jom Kippur verstößt.
Er kritisiert – wie andere Betroffene zuvor – die Behandlung durch die anwesenden Polizist*innen. Die Polizei selbst sei verunsichert und ängstlich gewesen, wodurch sie kein Gefühl von Sicherheit vermittelt habe.
Er fasst es so zusammen: „Die Polizei war im Zustand einer Probe…einer Übung.“ Außerdem empfand er es als erniedrigend, dass die Polizist*innen kein Wissen über jüdische Feiertage hatten.
Anschließend beschreibt er, Antisemitismus als weit verbreitende Krankheit der Gesellschaft. Und wie wichtig der Prozess ist, dies zu thematisieren. „Wie wichtig das ist, dass wir hier sind.“
Der Zeuge führt aus: „Das Problem liegt an uns allen […] an der Gesellschaft liegt das Problem“. So charakterisiert er „den Einzeltäter als Werkzeug der Gesellschaft“.
Im Verhältnis der postnazistischen deutschen Gesellschaft zu jüdischen Menschen und der beschreibt er drei Mechanismen: 1. Verdrängung als Nichtbehandlung mit jüdischem Leben; 2. Menschen, die sich gegen jüdische Menschen und jüdisches Leben positionieren und 3. Menschen, die eine übertriebene Liebe zu jüdischen Menschen äußern, was wiederum psychologisch auch problematisch ist.
Er kommt daher nochmal zurück auf seinen vorherigen Besuch im #HalleProzess. Da wurde einem anderen Zeugen aus der Synagoge vom Attentäter die Frage gestellt, ob die Gebete an Jom Kippur Jüdinnen*Juden von zukünftigen Taten freisprechen sollen.
Die Frage des Attentäters reproduzierte einen alten antisemitischen Topos. Die Nichtbeantwortung der Frage fasste er als Verdrängung auf. Er plädiert dafür solche antisemitischen Topoi aufzuklären und erläutert, dass die Gelübde im Gebet zu Jom Kippur nicht in die Zukunft, sondern mit Blick auf die Vergangenheit gemeint sind.
Die nächste Zeugin ist eine Sachverständige, die mit dem Attentäter verschiedene psychologische Tests durchführte.
So wurde ein Intelligenztest und mehrere Persönlichkeitstests (Minnesota Multiphasic Personality Inventory, Freiburger Persönlichkeitsinventar, Narzissmusinventar) durchgeführt.
Die daraus interpretierbaren Ergebnisse würden ein eher durchschnittliches Bild zeichnen, seien aber mit Vorsicht zu genießen, da Validitätsskalen des MMPI auf eine unauthentische Beantwortung einzelner Fragen durch den Angeklagten schließen lasse.
Als nächster Sachverständiger sagt Prof. Leygraf aus, welche an 3 Tagen eine sog. Exploration zur Frage der Schuldfähigkeit durchführte. Dazu stützte er sich auf verschiedene Ärzt*innenberichte und Aussagen des Angeklagten und anderer Zeug*innen.
Er diagnostiziert eine komplexe Persönlichkeitsstörung. Aufgrund der langfristigen Planung der Tat bejaht er das exekutive Steuerungsvermögen. Auch war seines Erachtens die motivationsbezogene Steuerung sowie die Unrechtseinsichtsfähigkeit nicht beeinträchtigt.
Daher sieht er keine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit. Zudem sieht er durchaus die Gefahr der Wiederholung ähnlicher oder gleicher Straftaten, da der Attentäter keine Hinweise zur Änderung seiner ideologischen Einstellungen zeigt.
In der Aussage von Leygraf zeigt sich wie schon bei anderen Sachverständigen, dass sich oft auf die Aussagen des Attentäters gestützt wird. Auch werden Aussagen getroffen, obwohl bspw. das Onlineverhalten bzw. die Onlinekontakte noch nicht ausermittelt sind.
Morgen soll dann u.a. @raeuberhose zur Onlinerezeption des Anschlags auf Imageboards aussagen.
Danke auch heute wieder an die wichtige Kundgebung vor dem Landgericht.