Der 27. Januar ist der Tag der Befreiung von Auschwitz. In Deutschland wird dieser Tag seit 1996 als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Das Datum der Einführung dieses Tages als Gedenktag sagt etwas über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der BRD.
Die Befreiung von Auschwitz ist ein Tag der Trauer und der Erinnerung, weil er für so viele Menschen zu spät kam und weil die wenigen Überlebenden erst nach so langer Zeit unmenschlicher Qualen befreit wurden. Die Erinnerung an dieses kaum vorstellbare Leid muss zu der Forderung führen, die auch das Motto der heutigen Kundgebung ist: »Dass Auschwitz nie wieder sei!«. Es ist an Gedanken von Theodor W. Adorno angelehnt, dessen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah wohl eine der konsequentesten überhaupt ist und die daher immer noch maßgeblich sein muss.
Als Initiative 9. Oktober Halle, die sich mit dem Anschlag am 9. Oktober 2019 in Halle auseinandersetzt, ist dieser Tag ein Anlass, über die Kontinuitäten nachzudenken, die zwischen Auschwitz und der Gegenwart bestehen. Der Anschlag in Halle hat, nach vielen bereits vorausgegangenen Anschlägen, ein weiteres Mal auf schreckliche Weise deutlich gemacht, wie sehr das Potential, das Auschwitz möglich gemacht hat, in der gegenwärtigen Gesellschaft weiterhin vorhanden ist. Genau das ist aber die Gefahr, gegen die Adorno sich mit seinem Werk gerichtet hat.
Der Ablauf des Prozesses gegen den Täter und des ersten Jahrestages des Anschlags hat deutlich gezeigt, dass der Umgang mit dem Anschlag wenig überraschend genau nach dem Schema des gesamtgesellschaftlichen Umgangs mit rechten Vorfällen und den mittlerweile fest etablierten Formen der bundesdeutschen Erinnerungspolitik verläuft. Die offizielle juristische und politische Umgangsweise zeigt sich dabei vor allem als eine der Abwehr einer wirklichen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen rechten Terrors und rechter Potentiale.
Für eine solche Auseinandersetzung, die notwendig ist, wenn die Erinnerung und die Forderung, die aus ihr hervorgeht, ernst genommen werden sollen, sind die Überlegungen Adornos zu den Bedingungen der Möglichkeit von Auschwitz wesentlich. Was heißt es gesellschaftlich und politisch, zu sagen, Auschwitz dürfe sich nicht wiederholen? Die offizielle Erinnerungspolitik bleibt beim Schaffen von Sichtbarkeit stehen, aber sie verweigert die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen von Auschwitz und von rechtem Terror, weil diese die bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse selbst betreffen würde. Denn genau diese Verhältnisse sind es, auf die sich Adorno bezogen hat, wenn er von den Bedingungen spricht, die Auschwitz ermöglichten oder von den objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen, die das faschistische Potential schaffen. Das Fortbestehen dieser Verhältnisse, ist auch der Grund dafür, dass er das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher ansah als das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.
Es sind gesellschaftliche Verhältnisse, die nicht auf das Wohl der Menschen ausgerichtet sind, die in ihnen leben und die sie reproduzieren, sondern die von ihrem Prinzip her den größten Teil ihrer Insass:innen zunächst vom gesellschaftlich produzierten Reichtum ausschließt, um sie in einen allgemeinen Konkurrenzkampf gegeneinander um die Möglichkeit zu setzen, sich durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft mehr oder weniger des zum Leben notwendigen zu sichern. Es ist die Irrationalität dieser Verhältnisse, die potentiell für alle die permanente Bedrohung durch Deklassierung, Herausfallen oder Überflüssigkeit bedeuten, die zu Ängsten und zur Anfälligkeit für irrationale Ideologien und falsche Alternativen führt.
Solche bedrohlichen Reaktionsweisen werden durch die bürgerlich-liberale Berufung auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht außer Kraft gesetzt, sondern eher noch verstärkt, wenn die realen Auswirkungen der bestehenden Verhältnisse nicht in der Sicherung eines menschenwürdigen Lebens für alle und in demokratischer Selbstbestimmung aller sozialen und ökonomischen Bedingungen bestehen. Die Berufung auf etwas, das in der Realität für viele gar nicht vorhanden ist oder das ihnen durch die Konsequenzen gesellschaftlicher Entwicklungen als gefährdet erscheint, entleeren tendenziell die Begriffe der Menschenwürde und der Demokratie gerade da, wo sie als Absicherung gegen rechte, antisemitische, rassistische oder antifeministische Potentiale dienen sollen.
Es ist aber nur der an der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft zu Tage liegende Schein von Freiheit und Gleichheit, der die bürgerlich-liberale Perspektive zu der Vorstellung bringt, sich auf Bedingungen berufen zu können, die sie gar nicht garantieren kann und die sie tatsächlich auch nicht universal, also für alle, herstellt. Unter diesem oberflächlichen Schein liegen Verhältnisse von ökonomisch vermittelter, direkter und staatlich ausgeübter Gewalt, von Ausbeutung, Herrschaft, Zwang, Ungleichheit und Elend. Diese Bedingungen werden durch die selben Rechtsverhältnisse aufrechterhalten, auf die sich die bürgerlich-liberale Haltung bezieht, wenn sie Stellung gegen Rechts beziehen will. Die Durchsetzung dieser Rechtsverhältnisse übernehmen die staatlichen Sicherheitsapparate, die zugleich auch gegen rechte Bedrohungen der bürgerlichen Ordnung vorgehen sollen. Die zu dieser Durchsetzung notwendige Autorität und Gewalt macht aber die staatlichen Sicherheitsapparate viel anfälliger für autoritäre Einstellungen und führt zu einer Neigung zu rechten politischen Vorstellungen. Diese Momente, deren Realität in den letzten Jahren immer offensichtlicher geworden ist, führen zu der strukturellen Begrenztheit bürgerlich-liberaler Politik und ihrer Appelle in Bezug auf eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft.
Sie sind ebenso die Grenze offizieller und bürgerlicher Erinnerungspolitik. Aber auch der zivilgesellschaftliche Ruf nach der offenen Gesellschaft, nach Vielfalt, Toleranz und einem bunten und weltoffenen Miteinander unterliegt diesem liberalen Schein und dem darin liegenden Widersprüchen. Diese Widersprüche deutlich zu machen und sich gegen alle Versuche zu richten, diesen gesellschaftlich ohnehin erzeugten Schein von Freiheit, Gleichheit, Anerkennung und Diversität immer wieder von neuem auch noch bewusst als vermeintliches Mittel gegen rechte Potentiale hervorzubringen, wäre die Aufgabe eines konsequenten Antifaschismus. Die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen von Auschwitz ist notwendig, um tatsächlich solche offenen, menschenwürdigen und umfassend demokratischen sozialen Verhältnisse herstellen zu können, die geeignet wären dessen Wiederholung zu verhindern.