Der Angriff am 4. Oktober 2020 in Hamburg, fast genau ein Jahr nach dem Anschlag vom 9.Oktober 2019 in Halle, erinnert in einigen Details auffällig an diesen. So fand der Angriff ebenso zur Zeit eines jüdischen Feiertages statt, wie auch der Täter militärische Kleidung trug. Aus unserer Sicht ist es nicht hinnehmbar, dass der Antisemitismus in dem nun beginnenden Verfahren nicht thematisiert werden soll.
Antisemitismus wird geduldet, wenn er als Motiv für antisemitische Angriffe nicht in das Verfahren einbezogen wird. Das gilt auch dann, wenn der Täter, wie hier, als psychisch krank gilt. Die psychoanalytische Sozialpsychologie zeigt, dass individuelle und kollektive Wahnvorstellungen eng miteinander verbunden sind und sich daher nicht einfach voneinander trennen lassen. Es gibt in diesem Fall eindeutige Hinweise auf ein antisemitisches Motiv, die als solche auch dann anzuerkennen sind, wenn eine individuelle psychopathologische Diagnose gestellt wird.
Das Erscheinen kollektiver ideologischer Vorstellungen, wie es antisemitsche sind, in individuellen psychischen Beschädigungen, müsste dazu veranlassen, diesem Zusammenhang genauer nachzugehen, statt ihn einfach auszublenden, indem der Täter als ausschließlich individuell psychisch wahnhaft verstanden wird und nur in dieser Rolle über ihn verhandelt wird. Das Wahnhafte auch der kollektiven ideologischen Vorstellungen des Antisemitismus wird gerade in seiner Erscheinung in der individuell beschädigten Psyche überdeutlich und wäre als solches auch hier klar herauszustellen.
Die Abwehr der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen antisemitischer und rechter Potentiale zieht sich durch alle gerichtlichen Verfahren gegen antisemitische und rechte Straftäter in den letzten Jahrzehnten. Als letztes sind da die medial mit viel Aufmerksamkeit bedachten Verfahren gegen den NSU und gerade erst gegen den Täter von Halle und den Mörder von Walter Lübcke zu nennen. Dem gleichen Prinzip folgten aber auch schon die Ermittlungen und Verfahren zum Anschlag auf das Oktoberfest, zum antisemitischen Anschlag von Erlangen oder zum Anschlag in der Halskestraße hier in Hamburg, die alle 1980 stattfanden.
Das Prinzip des Schlussstriches, das die Abwehr der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und somit die Abwehr gesellschaftlicher Konsequenzen bedeutet, ist allen diesen Verfahren gemeinsam. Es ist einerseits im bürgerlichen Recht selbst angelegt, nach dem Urteile immer nur über die Schuld Einzelner für individuelle Taten gesprochen werden. Für die bürgerliche Gerichtsbarkeit ist damit ihre Aufgabe, die darin besteht, die bürgerlich-demokratische Ordnung zu schützen und Verstöße gegen sie zu ahnden, erledigt. Dieses Prinzip, dass in der bürgerlichen Justiz alle Straftaten nur als einzelne verfolgt werden, schützt aber die bestehende Ordnung noch in einem viel weitgehenderen Sinn, so wie es in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu beobachten war.
Zum einen werden die organisierten und virtuellen Netzwerke, aus denen die meisten antisemitischen oder rechten Gewalttaten hervorgehen, nicht aufgedeckt und damit bleiben die von ihnen ausgehenden ideologischen Gefahren und Gewaltpotentiale bestehen. Das betrifft auch die Sicherheitsapparate selbst sehr stark, wie es in den letzten Jahren immer deutlicher erkennbar wurde. Auf der anderen Seite aber, was bei diesem Fall hier entscheidender sein dürfte, werden die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die zu rechten und antisemitischen ideologischen Vorstellungen führen, von der Thematisierung durch dieses Prinzip prinzipiell ausgeschlossen.
Genau das aber wäre die Aufgabe im Sinne einer wirklichen Befreiung vom Antisemitismus: die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen, aus denen antisemitische, rassistische und antifeministische Ideologien hervorgehen, mit dem Ziel der Befreiung von ihnen. Zu erkennen, dass die Versäumnisse, die Fehler und das Versagen der staatlichen und juristischen Apparate ein systemischer Teil der bestehenden Verhältnisse insgesamt sind, ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg, die Einrichtung dieses Ganzen in Frage zu stellen, das den Antisemitismus immer wieder hervorbringt und ihn zugleich immer wieder verleugnet.
Wir erklären uns solidarisch mit dem angegriffenen jüdischen Studenten und allen, die antisemitisch bedroht werden, und fordern die Benennung und Einbeziehung des antisemitischen Tatmotivs in das hier beginnende Verfahren. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Antisemitismus darf durch Dethematisierung nicht abgewehrt werden, sondern ist überall zu führen.