Wahlen sind deshalb von Bedeutung, weil sie Einfluss auf die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen im bestehenden System haben. Wahlen sind aber auch Bestandteil eines Systems, in dem die Entscheidungen über alle grundlegenden Angelegenheiten nicht von den Menschen selbst getroffen werden, sondern von Institutionen, die über sie entscheiden. Das System der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie spaltet systematisch den Bereich der Politik vom alltäglichen Leben der Menschen ab und verselbstständigt ihn im Parlament. Wahlen sind gerade dadurch wesentlicher Teil eines Systems von Herrschaft, indem sie ihm die Erscheinung demokratischer Legitimation verleihen. An den Wahlergebnissen lassen sich dann die Folgen von der Trennung zwischen Politik und dem Privaten, dem Alltäglichen, ablesen. Die Wahlergebnisse sind Ausdruck dessen, was in der Gesellschaft aktuell an ideologischem Potential vorhanden ist und wie gespalten die Gesellschaft tatsächlich ist. Insofern ist der Fokus auf Selbstorganisierung, das Motto dieser Kundgebung, wirklich entscheidend für eine Perspektive, die aus diesen Spaltungen herausführt.
Die Abspaltung der politischen Entscheidungsmacht über die grundlegenden Angelegenheiten des alltäglichen Lebens ist die Grundlage für den Zwang der ökonomischen Verhältnisse. Durch diesen werden alle in die Konkurrenz gegen alle anderen gesetzt und damit eine grundlegende Spaltung aller von allen hervorgerufen und die Menschen in die Position der Vereinzelung gebracht. Dieser gesellschaftlich produzierte Zwang und die Gewalt, die Herrschaft, die Entmündigung und die Spaltungen, die von ihm ausgehen, bilden die gesellschaftliche Grundlage für ideologische Vorstellungen. Diese übernehmen die Funktion, die aus dem gesellschaftlichen System hervorgehende Gewalt scheinbar auflösen zu können, indem sie abgespalten und auf andere verschoben wird. Aus der Abspaltung der politischen Entscheidungsmacht geht eine Situation gesellschaftlicher Ohnmacht und des Ausgeliefertseins an Bedingungen, die das Leben bestimmen, ohne darüber bestimmen zu können, hervor. Die ideologische Antwort darauf ist wieder eine Abspaltung. Die Verschiebung der Ursachen für die gesellschaftlich produzierte Gewalt auf bestimmte Bevölkerungsgruppen ist die gesellschaftliche Grundlage für die Ideologien des Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus. Die Ausmaße dieser falschen Antworten auf reale gesellschaftliche Widersprüche reichen von tagtäglichen Wirkungen bis hin zu rechtem Terror, wie in Kassel, Halle und Hanau. Es gilt dringend wirkliche Antworten auf diese gesellschaftlichen Widersprüche und Spaltungen zu finden.
Wirkliche Antworten werden mit Wahlen, die das System bestätigen und fortführen, nicht gegeben. Wirkliche Antworten können nur in der Rückeroberung der politischen Entscheidungsmacht durch die konsequente Ausweitung von Selbstorganisierung gefunden und durchgesetzt werden.
Dennoch gibt es innerhalb des politischen Spektrums der Parteien, die hier zur Wahl antreten, selbstverständlich entscheidende Unterschiede, was die Beförderung oder die Entgegenwirkung hinsichtlich der Bedingungen ideologischer Potentiale auf der einen Seite und kollektiver Selbstbestimmung auf der anderen Seite betrifft. Inwieweit sich die einzelnen Parteien unterscheiden, zeigt sich beispielhaft an der parlamentarischen Aufarbeitung des Anschlags von Halle: Ein Ergebnis davon ist die sogenannte Antifa-Klausel in der Landesverfassung, die maßgeblich auf die Initiative der Fraktion Die Linke zustande gekommen ist. Dafür wurde ein Kompromiss mit der Regierungskoalition von CDU, SPD und Grünen gefunden, der wohl nur unter dem Eindruck des Anschlags von Halle möglich wurde. Die Klausel erklärt es zur Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und aller Einzelnen, die Verbreitung nationalsozialistischer Ideologie und rassistische und antisemitische Aktivitäten nicht zuzulassen. Die Fraktion der AfD hat dem nicht zugestimmt.
Das bedeutet aber nicht, dass CDU, SPD und Grüne damit zu antifaschistischen Parteien geworden wären, denn als Regierungskoalition sind sie verantwortlich für das Fortbestehen des Systems, das ideologisch motivierte Spaltungen, Diskriminierung und Gewalt täglich hervorbringt. Wie die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit niemals ernsthaft vollzogen wurde, weder in der BRD noch in der DDR, so gibt es auch keine wirkliche Aufarbeitung des Anschlags in Halle. Eine wirkliche Aufarbeitung würde eine umfassende Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen rechtsradikaler Potentiale und faschistischer Bewegungen und ihren ideologischen Vorstellungen bedeuten. Eine solche Auseinandersetzung hat aber bisher weder auf politischer Ebene noch in der bürgerlichen Öffentlichkeit stattgefunden. Von der AfD kam erwartungsgemäß nur Abwehr. Die Parteien der Regierungskoalition haben vor allem Symbolpolitik betrieben, die kaum einen Inhalt besitzt, also weitgehend leer ist. Die CDU ist ferner noch mit Äußerungen und Handlungsweisen hervorgetreten, die zeigen, wie wenig ihre politischen Vorstellungen mit der selbst auferlegten Verpflichtung zum Antifaschismus übereinstimmen. Das betrifft auch den aktuellen Ministerpräsidenten Haseloff, der wieder als Spitzenkandidat der CDU antritt. Zudem gibt es innerhalb der CDU in Sachsen-Anhalt Teile, die eine Zusammenarbeit mit der AfD anstreben. Trotz der Klausel in der Landesverfassung, die zum Antifaschismus verpflichtet, ist von der Landespolitik innerhalb der Grenzen des bürgerlichen Parlamentarismus auch zukünftig keine antifaschistische Politik zu erwarten.
Antifaschistische Politik wäre die Arbeit an der Rücknahme des gesellschaftlich produzierten Zwangs, der alle gegen alle setzt. Die Spaltung der Gesellschaft, die aus dem Zwang der Verhältnisse hervorgeht, ist nur durch eine umfassende Demokratisierung und solidarische Umgestaltung aller Bereiche des sozialen Lebens zu überwinden. Bedingungen, die die freie Entwicklung des und der Einzelnen gleichzeitig mit der freien Entwicklung aller zulässt und die ein Verschiedensein ohne Angst erlauben, stehen nicht zur Wahl. Wirklich demokratische Verhältnisse, in denen über die grundlegenden Angelegenheiten des Lebens und seiner Reproduktion kollektiv selbst bestimmt wird, sind nur durch Selbstorganisisierung herzustellen. Zur Wahl stehen nur Optionen in Form von Parteien, die über die Vorbedingungen für die Herstellung wirklich freier, solidarischer und demokratischer Verhältnisse bestimmen. Sich über Wahlen strategisch diesem Ziel zu nähern, ist ein Mittel, das aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass eine politische Arbeit der Selbstorganisierung unbedingt notwendig bleibt.
Die antifaschistische Politik der Selbstorganisierung geht davon aus, dass kein demokratisches Miteinander besteht, sondern erst hergestellt werden muss. Das bedeutet zugleich, dass von einer Unteilbarkeit nicht ausgegangen werden kann, wenn Verhältnisse bestehen, die zu Teilungen führen. Eine antifaschistische Politik der Selbstorganisierung steht vor der Aufgabe, in der Selbstorganisierung nicht selbst wieder neue Teilungen hervorzubringen. Ein entscheidender Ansatzpunkt dafür wäre die Berücksichtigung der besonderen intersektionalen Konstellation, in der Ideologien wie Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus und weitere zueinander stehen.
Es braucht eine politische Arbeit, die weit über die Stimmabgabe als politische Handlung hinausgeht. Die Entscheidung zur Wahl einer Partei ist innerhalb dieses Systems zwar wichtig, aber ganz und gar unzureichend, um die Spaltungen, die es selbst hervorbringt, zu überwinden. Dafür ist eine politische Arbeit der Selbstorganisierung notwendig, die eine andauernde Aufgabe für uns als Individuen und politische Gruppen stellt.