Liebe Anwesende,
ein Jahr ist der rassistische Anschlag in Hanau nun her, bei dem Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin getötet wurden.
Wir grüßen heute insbesondere die Initiative 19. Februar in Hanau, die es seither beispielhaft schafft, das Thema in der Öffentlichkeit zu halten.
Da der Attentäter sich selbst im Anschluss an den Anschlag umbrachte, ist in Hanau kein Prozess gegen ihn möglich, wie es nach Halle der Fall war. Den Betroffenen und Angehörigen wird somit die Möglichkeit zur einer intensiveren Aufklärung verwehrt. Das führt unter anderem auch dazu, dass die mediale Aufmerksamkeit viel geringer ist.
Das Gedenken und der Ruf nach Aufklärung und Gerechtigkeit erfolgt deshalb insbesondere immer wieder von den Angehörigen und Freund*innen der Betroffenen und Todesopfer. Das muss neben der ohnehin großen Leid- und Verlusterfahrung eine sehr hohe Belastung sein.
An die Menschen in Hanau: Wir stehen hinter euch. Wir unterstützen euch.
Was man aus dem Halle-Prozess ableiten kann.
Wir als Initiative 9. Oktober haben uns gefragt, was man für den Terroranschlag von Hanau aus dem Halle-Prozess ableiten kann. So lässt sich etwa eine Parallele in der Verschleppung von Ermittlungen und der Beweissicherung feststellen. Aber auch ein Ignorieren von Verbindungen und das unsensible Vorgehen der Behörden.
In Hanau stellt sich die Frage, warum der Notausgang der Arena-Bar, einem der Tatorte, verschlossen war. Das deutet auf die rassistische Praxis der Polizei in Bezug auf Shishabars hin. Weiterhin wird berichtet, dass die Notrufzentrale an dem Abend in Hanau nicht korrekt funktionierte. Viele Anrufe wurden nicht angenommen oder registriert. Die Untersuchungen dazu nahm die Staatsanwaltschaft allerdings erst auf, nachdem die Angehörigen Ende des Jahres Strafanzeige stellten. Offensichtlich haben die Behörden kein Interesse an einer Aufklärung, sondern relativieren Versäumnisse und rassistische Vorgehensweisen des Staates.
Ähnlich wie in Hanau mussten auch nach dem Anschlag in Halle die Betroffenen eine aktive Rolle einfordern. Der Halle-Prozess, der von Juli bis Dezember vergangenen Jahres in Magdeburg geführt wurde, hat dazu besondere Gelegenheit geboten. Das durch den Prozess breitere Medieninteresse war allerdings zwischen Prozessbeginn und Urteilsverkündung merklich geringer.
In diesem Zeitraum waren es auch hier vor allem solidarische Initiativen, Einzelpersonen und Betroffene, die sich dafür einsetzten, den Inhalt der Verhandlung publik zu machen. Das war besonders wichtig, weil die vorsitzende Richterin den Betroffenen als Zeug:innen Raum zur Darstellung des Geschehenen eingeräumt hat. Dies ist für so einen Prozess, beispielsweise im Vergleich zum NSU-Prozess, eher untypisch. Die Betroffenen des Anschlags nutzten diese Möglichkeit, um ihre Perspektive auf den Ablauf des Anschlags und auch ihre gesellschaftliche und politische Einordnung deutlich vorzutragen. Und ebenfalls, um über die unsensible Behandlung durch die Polizei zu berichten. Eine Erfahrung, die sie ebenfalls mit den Angehörigen und Betroffenen von Hanau teilen.
Aber diese können ihre Erfahrungen nicht vor Gericht vorbringen und anklagen. Deshalb fordern die Angehörigen der Getöteten und die Überlebenden von Hanau andere Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Dazu gehört auch, sich mit den Strategien und Ideologien der Rechtsterroristen auseinanderzusetzen. Nur wenn es Wissen darum und die Bereitschaft zur Aufklärung gibt, kann ein Verhindern weiterer solcher Taten gelingen!
Wir möchten daher an dieser Stelle den ideologischen Gemeinsamkeiten der Anschläge in Halle und Hanau nachgehen:
Beide Taten wurden von alleine handelnden Terroristen begangen – von Einzeltätern kann aber keine Rede sein!
Was den Täter von Halle betrifft, so gibt es zahlreiche Belege, dass er in Foren – den sogenannten Imageboards – und in Online-Games Kontakt zu gleichgesinnten Rechtsextremen hatte. Im Livestream, den er auf ein solches Imageboard hochgeladen hat, richtete er sich explizit an die Foren-User. Er suchte damit nach Anerkennung unter den Usern und wollte sich in eine Reihe mit anderen Rechtsterroristen stellen. Nämlich den Attentätern von Oslo/Utoya, von Christchurch, Poway und El Paso, zu deren Anschlägen große Ähnlichkeiten bestehen. Denn in diesen rechtsextremen Foren werden sie wie Helden glorifiziert.
Andererseits wollte der Attentäter von Halle selbst weitere Nachahmer motivieren.
In seinem ebenfalls in Foren veröffentlichten Pamphlet umreißt er seine zutiefst antisemitische und rassistische Ideologie und stellt ausführlich seine zum großen Teil selbst hergestellten Waffen vor. Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten mit dem Attentäter von Hanau: Auch er verfasste ein Pamphlet und lud Videos im Internet hoch, weil er seine Ansichten verbreiten und weitere Anhänger anstacheln wollte.
In vielen weiteren ideologischen Punkten sind Übereinstimmungen der Täter von Halle und Hanau deutlich zu erkennen – beide sind getrieben von Rassismus und dem Glauben an die Erzählung des Großen Austauschs – also dem Mythos, nach dem geheime (jüdische) Eliten Migration lenken würden und somit die angebliche ‚weiße Rasse‘ aus ihrer überlegenen Position verstößen.
Damit knüpfen beide an internationale Diskurse rechter Gruppen an, die mit der Ideologie der „White Supremacy“ ihre angebliche Überlegenheit propagieren. Und damit stehen sie in einer direkten Linie mit den Motiven der Attentate von Christchurch, Poway, El Paso und weiteren.
Aber auch weitere Komponenten rechtsextremer Ideologie weisen auf Parallelen hin:
In beiden Fällen ist die Verachtung von Frauen* ein wichtiger Aspekt. Aus dem Pamphlet des Attentäters von Hanau lässt sich entnehmen, dass er der Ansicht war, ein naturgegebenes Anrecht auf den Körper einer Frau zu haben.
Diese Vorstellung teilt er mit der sogenannten Incel-Bewegung. Eine Bewegung von Männern, die von sich sagen, dass sie unfreiwillig enthalsam leben würden. Sie tauschen sich vor allem im Internet ultra sexistisch aus und stacheln sich gegenseitig zu Gewalttaten an. Der Attentäter von Halle wiederum bezog sich während seiner Tat eindeutig positiv auf die „Incels“. Er spielte ein Lied ab, das einem Terroristen aus der „Incel-Szene“ huldigt.
Bemerkenswert ist zudem, dass der Attentäter vom 19. Februar für die Tatsache, dass er keine Partnerin gefunden hat, einen Geheimdienst verantwortlich machte. Diese Vorstellung, geheime Mächte würden das Verhalten von Frauen steuern, um letztlich die „White Supremacy“ zu stürzen, findet sich genauso beim Halle-Attentäter. Nur dass dieser als „geheime Elite“ noch deutlicher „die Juden“ nennt, die sich den Feminismus ausgedacht hätten.
Bei der Frage, welche Rolle das familiäre Umfeld für die Radikalisierung spielte, ergeben sich ebenfalls Parallelen. Vor ein paar Wochen hörten wir durch Medienberichte und die Initiative 19. Februar, dass der Vater des Attentäters von Hanau dieselbe rassistische Verschwörungsideologie wie sein Sohn vertritt. Dass er das Gedenken an die Opfer des Anschlags „Volksverhetzung“ nennt, und eine widerliche Täter-Opfer-Umkehr betreibt. Er fordert sogar die Waffen seines Sohnes zurück. Auch er muss zwangsläufig als Gefahr für die Überlebenden und alle „migrantisch gelesenen“ Menschen in seiner Umgebung eingestuft werden. Auch das Umfeld des Halle-Attentäters, insbesondere die Mutter, fiel durch antisemitische und rassistische Äußerungen auf.
Man kann zwischen den rechtsterroristischen Attentaten der letzten Jahre verbindende Elemente finden: in der Ideologie sowie der Inszenierung der Taten via Livestream. Dafür ist immer auch eine globale Perspektive wichtig, da Rechtsterroristen international vernetzt sind. In vielen Fällen wird ein staatsgebundener Nationalismus durch rassistische Kampfphantasien abgelöst.
Zwar ist die intensive Auseinandersetzung mit diesem neuartigen Tätertypus unbedingt notwendig, jedoch darf die Beschäftigung damit nicht den Blick auf andere Formen extrem rechter Gewalt verstellen.
Nachrichten über Nazi-Netzwerke und Chatgruppen in Sicherheitsbehörden, über rechte Preppergruppen, die sich auf einen Tag X vorbereiten und Todeslisten politischer Gegner:innen führen, gehören inzwischen zum Alltag. Auch rechtsterroristische Gruppen, die eher verdeckt und ähnlich dem NSU agieren, wie z.B. die Gruppe Freital in Sachsen, agieren nach wie vor.
Zudem ist rechte Gewalt Alltag: in Form von rassistischen und antisemitischen Diskriminierungen, in Form von Äußerungen, Drohungen und Übergriffen.
Gemeinsam müssen wir weiterhin an der Seite von Betroffenen stehen. Wir müssen ihren Bedürfnissen Raum geben und den Tätern dafür die Bühnen nehmen. Wir müssen weiterhin gesellschaftliche Missstände anprangern und Solidarität zeigen!
In Gedenken an alle Todesopfer rechter Gewalt!