Wozu erinnern?
Vor drei Jahren, am 9. Oktober 2019, erschoss ein Rechtsterrorist in Halle zwei Menschen und verletzte viele weitere, nachdem sein Angriff auf die zu Yom Kippur in der Synagoge feiernden Jüdinnen und Juden gescheitert war. Sein nächstes Ziel war ein Döner-Laden; in einem seiner zum Anschlag veröffentlichten Dokumente heißt es außerdem, er plante zunächst, eine Moschee oder ein ›Antifa-Kultur-Zentrum‹ zu stürmen, entschied sich aber dann doch für die Synagoge, weil er die Juden als Ursache der von ihm ausgemachten Probleme sieht.
Die Erinnerung an den Anschlag in den letzten beiden Jahren hat ein sehr zersplittertes Bild gezeigt; ähnlich ist es den Ankündigungen zufolge für dieses Jahr zu erwarten. Das heißt, das Gedenken oder Erinnern hat jeweils ganz verschiedene Bedeutungen oder Funktionen. Daraus ergibt sich die Frage: Wozu dient das Erinnern? Oder auch: Was soll damit erreicht werden? Welche Funktion hat es? Was ist das Ziel?
Öffentliche Erinnerung hat immer einen Grund, ein Ziel oder eine Funktion; es ist immer eine Instrumentalisierung. Wofür also ist es gerechtfertigt, die Erinnerung an den Anschlag zu instrumentalisieren? Die Antwort darauf lautet: Damit Ähnliches nicht geschehe, sich nicht wiederhole.
Wie kann Erinnerung dazu beitragen, Denken und Handeln so einzurichten, dass ein solcher Anschlag oder etwas Ähnliches sich nicht wiederholt, nicht noch einmal geschieht? Eine Erinnerung, die in diesem Sinne wirksam werden soll, muss auf die Auseinandersetzung mit der politischen Situation der Gegenwart bezogen sein. Es geht also um den Inhalt der Erinnerung: Vermag das, was gesagt und getan wird, einen Anstoß zu geben, in die gegenwärtige Situation einzugreifen, den Versuch zu unternehmen sie zu verändern?
Es sind dabei zwei Dimensionen voneinander zu unterscheiden, einmal die politischen und institutionellen Bedingungen innerhalb des bestehenden gesellschaftlichen Systems, die solche Taten möglichst verhindern oder zumindest unwahrscheinlich machen sollen, und zum anderen die Voraussetzungen für die in dem Anschlag zum Ausdruck gekommenen ideologischen Elemente, die in diesem System selbst liegen.
Erinnerung erscheint dann in drei Formen.
Das offizielle Erinnern hat die Form eines zeremoniellen Gedenkens: Die politische Klasse zelebriert Gedenkveranstaltungen als Ritual — ein routiniertes, leeres Gedenken ohne jede inhaltliche Auseinandersetzung mit den Hintergründen und Ursachen von rechtem Terror, Antisemitismus und Rassismus. Diese Form des Ritualismus als Gedenken ist letztlich dem Geschehenen gegenüber gleichgültig, dient aber der eigenen Identitätskonstruktion, der Selbstbestätigung als politische Klasse und der Legitimierung des bestehenden politischen Systems. Zusätzlich schafft die politische Klasse noch einige Stellen und Förderprogramme für zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechts.
Das zivilgesellschaftliche Erinnern erscheint dann auch als komplementäre Form zum offiziellen Erinnern. Auch dabei werden auf ritualisierte Akte des Gedenkens zurückgegriffen, nur auf andere Weise, erklärtermaßen voller Anteilnahme und Solidarität. Oft ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen von Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus und rechtem Terror gar nicht vorhanden oder beschränkt sich auf das Anführen mangelnder Sichtbarkeit und Repräsentation. Dementsprechend werden Forderungen nach mehr Sichtbarkeit, Repräsentation und Beteiligung und nach einem sensibleren und sorgfältigeren Umgang der staatlichen Institutionen, der Justiz- und Sicherheitsapparate mit rechter Gewalt, Antisemitismus und Rassismus erhoben.
Dazu findet hier, ebenso wie beim staatlichen Gedenken, oft eine Aneignung jüdischer oder teilweise auch türkischer, arabischer oder islamischer kultureller Elemente statt, im Sinne einer Sichtbarmachung kultureller Vielfalt und einer im kulturellen und identitären Sinne verstandenen Solidarität. Die auch kulturelle Identifikation mit den Opfern, Überlebenden und Betroffenen dient in beiden Fällen der Schaffung einer Identität als wiedergutgewordene Deutsche, die zugleich eine Abwehr der Schuld und der Auseinandersetzung mit ihren Ursachen ist. Darin überschneiden sich die offiziell staatlichen und zivilgesellschaftlichen Formen des Erinnerns. In ihnen geht es vor allem um die Darstellung statt um die Auseinandersetzung, die Kritik und die Veränderung, sie bleiben Gedächtnistheater, Erinnerung als eine andere Form des Vergessens.
Was wäre dann eine Form des Erinnerns, die als Kritik wirksam werden kann? Erinnerung als Kritik geht aus von der Solidarität mit allen Opfern und mit den Überlebenden. Sie hört die Forderungen der Überlebenden und nimmt sie solidarisch auf. Der Inhalt dieser Forderungen besteht vor allem in der Einforderung von Auseinandersetzungen der Mehrheitsgesellschaft mit den Hintergründen rechten Terrors und rechter Gewalt. Das wäre an sich so selbstverständlich, dass es keiner Forderung danach bedürfte, aber dennoch findet es nur sehr wenig statt. Wenn Kritik und Veränderung irgend wirksam werden sollen, kann sie nicht nur von den Überlebenden übernommen werden und ihnen überlassen bleiben. Die Kritik und die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die rechte und autoritäre Ideologien hervorbringen, ist eine Verpflichtung, die für alle Mitglieder dieser Gesellschaft aus der Erinnerung erwächst.
Das bedeutet, ein bloßes Gedenken, das nur auf ein Sichtbarmachen beschränkt bleibt und nicht auf die Auseinandersetzung mit der Sache selbst gerichtet ist, bleibt affirmativ und ist nicht politisch. Nur eine Erinnerung, die auf die Auseinandersetzung mit der politischen Situation der Gegenwart bezogen ist, entspricht der Verpflichtung zu Kritik und Veränderung, die aus dem Erinnern hervorgeht.
Walter Benjamin spricht von der Gefahr, die der Erinnerung sowohl in ihrem Bestand als auch ihren Empfängern droht: »sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben«. Angesichts dieser Gefahr der Vereinnahmung für das bestehende Herrschaftssystem geht es ihm zufolge darum, sich der Erinnerung im Augenblick dieser Gefahr zu bemächtigen. Sich der Erinnerung zu bemächtigen heißt, einen Zusammenhang herzustellen zur politischen Situation der Gegenwart und die Erinnerung als ein Element zu verstehen, welches das scheinbar unaufhaltsame Andauern der bestehenden Verhältnisse aufzusprengen vermag.
Der Augenblick der Gefahr, die Erinnerung an den Anschlag in Halle an das herrschende System zu verlieren, besteht schon seit drei Jahren und noch immer im Hier und Jetzt. Dabei zeigen sich in den gegenwärtigen Krisen gerade die Ursachen des Vergangenen, das Fortbestehen der gesellschaftlichen Voraussetzungen autoritärer Potentiale und faschistischer Bewegungen. Hier zeigt sich die Verbindung von Erinnerung und der Auseinandersetzung mit den Bedingungen für rechte und autoritäre Ideologien unmittelbar. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen schlagen immer mehr auch in die unmittelbaren politischen Voraussetzungen faschistischer Bewegungen um. Gerade hier gilt es, die Erinnerung an rechte Gewalt und rechten Terror dem Bestehenden zu entreißen und sie dem kapitalistischen Realismus entgegenzustellen, der die fortwährende Anwesenheit von deren gesellschaftlichen Ursachen bedeutet.