Für einen konsequenten Antifaschismus. Für antifaschistische Solidarität.

Redebeitrag auf der Kundgebung »2 Jahre nach dem Anschlag. Erinnern bedeutet Auseinandersetzung, Aufarbeitung verlangt Kritik« am 9. Oktober 2021

Wir sind hier, um an den rechtsterroristischen Anschlag zu erinnern, der vor zwei Jahren hier in Halle stattgefunden hat. Wir erinnern an die dabei Ermordeten Jana L. und Kevin S.. Wir denken an die, die an diesem Tag körperliche und seelische Verletzungen erlitten haben.

Wir sind voll Trauer und Wut über die Auslöschung des Lebens der Ermordeten. Wir sind voll Trauer und Wut über die Schmerzen, die den Überlebenden zugefügt wurden. Wir sind voll Trauer und Wut über den würdelosen Umgang der staatlichen Institutionen mit den Überlebenden. Wir sind voll Trauer und Wut über die Gleichgültigkeit und das Unverständnis für die Bedeutung dieses Anschlags, die in dem Gerichtsprozess zum Ausdruck kamen. Wir sind voller Trauer und Wut darüber, dass die Auseinandersetzung mit den Ideologien des Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus und ihren gesellschaftlichen Bedingungen so wenig geführt wird.

Der Täter wollte aus seiner antisemitischen Ideologie heraus die zum höchsten jüdischen Feiertag in der Synagoge versammelten Jüdinnen und Juden ermorden. Nachdem ihm das nicht gelungen war, ermordete er erst Jana L. und fuhr dann, getrieben von seiner rassistischen Ideologie, zum Kiez-Döner, um dort durch ihn rassifizierte oder migrantisierte Menschen zu töten. Durch seine Schüsse starb dort Kevin S.. Während der Flucht versuchte er Aftax I. und dessen Freund aus rassistischen Motiven heraus zu ermorden. Kurz bevor er verhaftet wurde, fügte er zwei Menschen in Wiedersdorf bei Landsberg schwere Schusswunden zu als er deren Auto für seine Flucht entwenden wollte. Aus den Dokumentationen der Tat ist als weiteres entscheidendes Motiv eine antifeministische Ideologie zu entnehmen.

Unsere Solidarität gilt den Überlebenden und ihre Perspektiven stellen den Ausgangspunkt für die antifaschistische Solidarität dar, die notwendig ist, um der rechten Bedrohung entgegen zu wirken. Viele Überlebende fordern, dass die deutsche Gesellschaft sich endlich schonungslos mit den antisemitischen, rassistischen und antifeministischen Einstellungen in ihrer Mitte auseinandersetzen muss, genauso wie mit den rechten und radikal rechten Strukturen, die daraus hervorgehen und von dort her Unterstützung erfahren. Wie notwendig es ist, diese Auseinandersetzungen zu führen, wird jedes Mal deutlich, wenn wieder über antisemitische, rassistische und sexistische Angriffe oder Übergriffe berichtet wird, wenn wieder über rechte und extrem rechte Netzwerke in Sicherheitsapparaten oder Justizbehörden berichtet wird, wenn Berichte über die Verbreitung von Verschwörungsideologien erscheinen, wenn bei Wahlen extrem rechte, aber auch rechtskonservative, marktradikale und neoliberale Parteien Mehrheiten erhalten oder wenn die Abwehr geflüchteter Menschen an den EU-Außengrenzen weiterhin vollzogen wird, die unzählige Menschenleben fordert. Deutlich wird dadurch außerdem, dass die Auseinandersetzung auch die gesellschaftlichen Verhältnisse betreffen muss, aus denen all das und noch viel mehr hervorgeht. Auch das haben einige der Überlebenden benannt.

Der Anschlag von Halle zeigt die Notwendigkeit antifaschistischer Solidarität, die sich gegen Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus in ihrem Zusammenhang untereinander und mit den gesellschaftlichen Verhältnissen richten muss. Entscheidend dafür ist es, die einzelnen Ideologien in ihrer jeweiligen Besonderheit für sich, vor allem aber auch in ihrem Zusammenhang in ihrer bestimmten Konstellation zueinander zu kritisieren und dagegen vorzugehen. Die notwendige antifaschistische Solidarität kann nur hergestellt werden, wenn diese Intersektionalität der Ideologien berücksichtigt wird. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft existiert diese Intersektionalität von Ideologien überall, so im alltäglichen Antisemitismus, Rassismus und Sexismus und in weit verbreiteten Verschwörungsideologien. Sie existiert in der personalisierenden und projektiven Abwehr negativ empfundener Erscheinungen und gesellschaftlicher Widersprüche und Konflikte, indem sie auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen zurückgeführt werden. In rechten und radikal rechten Zusammenhängen führt sie zu tödlicher und terroristischer Gewalt, wie hier in Halle.

Die Erinnerung an den Anschlag von Halle ist daher unmittelbar auf die Auseinandersetzung mit dieser Intersektionalität von Ideologien verwiesen, denn aus dieser ging die für die Tat entscheidende Motivation hervor. Diese Auseinandersetzung muss dann aber auch beinhalten, auf welche Weise die Ideologien mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenhängen und aus diesen hervorgehen. Das bedeutet, sich dem Problem zu stellen, dass diese Ideologien systemische Ursachen haben und insofern über individuelle Einstellungen hinausreichen und auf »objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen« beruhen.

Die politische und ökonomische Ordnung, in der wir aktuell leben, d.h. die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, ist ein System anonymer Herrschaft und systematischer Ausbeutung, das die Menschen in ein Verhältnis des Gegeneinanders und der Spaltung setzt. Zugleich bedeutet das für die Mehrheit eine Abhängigkeit von Zuständen, über die von den Einzelnen nicht bestimmt werden kann. Für die Einzelnen bedeutet »der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« einen Zwang zur Anpassung an das Bestehende. In der Idee der Demokratie ist enthalten, dass alle gemeinsam über ihre Angelegenheiten bestimmen können. Der Zwang zur Anpassung an das Bestehende, der gesellschaftlich hervorgerufen wird, lässt diese demokratische Selbstbestimmung aber nicht zu. Er zwingt zur Disziplinierung und zur Flexibilisierung, ohne dass die dafür in Aussicht gestellte Bedürfnisbefriedigung und Selbstbestimmung tatsächlich auch regelmäßig eingelöst werden würde.

Der Zwang zur Anpassung und die Identifikation mit der Gewalt der bestehenden Verhältnisse bringt die Anfälligkeit für rechte Ideologien systematisch hervor. Ideologien sind Verarbeitungsformen der Unsicherheit und Ohnmacht herstellenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die aber nicht zur Überwindung dieser Zustände führen, sondern sie verlängern und verschärfen. Das bedeutet auch, dass es eine Illusion wäre, bürgerlich-kapitalistische Verhältnisse ohne Ideologien anzustreben, wie es liberale Erzählungen von der offenen Gesellschaft vorgeben, die sich damit selbst als ideologisch erweisen. Darum ist Aufarbeitung gleichbedeutend mit umfassender Veränderung, die die Ursachen der Entstehung rechter Potentiale zu überwinden vermag, denn «aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären«.

Diese Auseinandersetzung mit der Intersektionalität von Ideologien und ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen beinhaltet notwendig auch den Streit verschiedener Positionen der Kritik. Unsere Wut und unsere Trauer dürfen nicht dazu führen, dass diese Unterschiede der Perspektiven antifaschistische Solidarität unmöglich macht. Die öffentliche Aushandlung verschiedener Positionen zu Antisemitismus, zu Rassismus, zu Feminismus und darüber, was Kritik der Gesellschaft heißt, was es bedeutet, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu kritisieren, kann unterschiedliche Sichtweisen nicht einfach ausschließen, sondern muss versuchen, die verschiedenen Perspektiven in ihrer Konstellation, also in ihrem besonderen Zusammenhang zueinander, zu betrachten und zu berücksichtigen.

Ein konsequenter Antifaschismus, der solidarische antifaschistische Allianzen herzustellen in der Lage wäre, müsste auch Differenzen anerkennen und aushalten können ebenso wie gegenseitige Kritik. Solidarischem politischem Handeln ginge es um die Solidarität zwischen verschiedenen Positionen und unterschiedlichen Perspektiven auch in der gegenseitigen Kritik, angesichts der Gefahr rechter Potentiale, wie sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse systematisch hervorbringen. Antifaschistische Solidarität würde gerade aus der Konstellation gegenseitiger Kritik hervorgehen, die den Zusammenhang in den gesellschaftlichen Verhältnissen erkennen kann. Der Anschlag in Halle und die zugrundeliegende Intersektionalität von Ideologien zwingen uns die Einsicht in diesen Zusammenhang geradezu auf, darum lasst uns Kritik aneinander formulieren, aber auch antifaschistisch solidarisch sein.