Dieser Text ist von einem Mitglied unserer Gruppe auf Anfrage hin für das Buch »Der Halle-Prozess: Hintergründe und Perspektiven«, herausgegeben von Christina Brinkmann, Nils Krüger und Jakob Schreiter (2022), geschrieben worden. Aus Gründen, die auch auf ausdrückliche Nachfrage hin nicht angegeben werden konnten, haben sich die Herausgeber dann aber gegen eine Aufnahme des Textes in das Buch entschieden. Hier ist der Text nun nachzulesen.
I. (Erinnerung)
Erinnerung ist zuallererst Trauer um die, die ermordet wurden, und Empathie mit denen, die überlebt haben. Erinnerung bedeutet aber immer auch einen Bezug auf die Bedingungen, die das Geschehene ermöglichten. Die Weise, wie mit diesem Bezug umgegangen wird, entscheidet darüber, ob die Erinnerung dazu beiträgt, diese Bedingungen beizubehalten oder sie in Frage zu stellen. Das Sagen ihrer Namen heißt danach zu fragen, warum sie gestorben sind. Die Solidarität mit den Überlebenden beinhaltet die Forderung, sich für die Einrichtung solcher Verhältnisse einzusetzen, die den Ideologien, die zu ihrer Bedrohung führten, keine Grundlage mehr geben. Die Erinnerung an diejenigen, die gestorben sind, und die Solidarität mit denjenigen, die überlebt haben, und mit allen, die potentiell von autoritärer Gewalt betroffen sind, stellt die Aufgabe der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen autoritärer Ideologien und autoritären Terrors.
In der Erinnerung an den Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle zeigen sich die Widersprüche der gesellschaftlichen Bedingungen. Dieser Anschlag und die darauf folgenden gesellschaftlichen Umgangsweisen beinhalten eine Konstellation von verschieden Betroffenen und Akteuren, die in ihrem bestimmten Verhältnis zueinander wahrzunehmen schon Teil der Auseinandersetzung ist, die die Erinnerung fordert. Von den Angriffen im Laufe des Anschlags waren ganz verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Lebenshintergründen betroffen, die in der Erinnerung alle in ihrer Verschiedenheit angemessen zu berücksichtigen sind. Es ist schon allein durch diese Konstellation nicht möglich, bereits bestehende Konzepte der Erinnerungspolitik oder der Kritik daran einfach zu übernehmen und auf die Situation nach dem Anschlag in Halle zu übertragen. Sie macht vielmehr gerade die Auseinandersetzung mit diesen Besonderheiten erforderlich, um die Erinnerung zu der Kritik der Verhältnisse werden zu lassen, die ein weiteres Mal zur Notwendigkeit der Erinnerung geführt haben.
Die offizielle Erinnerungspolitik ist von Interessen und Motivationen geleitet, die einer wirklichen Auseinandersetzung mit den Hintergründen und infolgedessen einer wirklichen Aufarbeitung der Ursachen autoritärer Gewalt entgegenstehen. Diese Interessen und Motivationen sind vor allem darauf bezogen, das Bestehende aufrechtzuerhalten und zu rechtfertigen. Diese Erinnerungspolitik ist daher auch vornehmlich darauf ausgerichtet, die für eine tatsächliche Aufarbeitung notwendige Auseinandersetzung abzuwehren. Erinnerung als Kritik geht demgegenüber aus von den Perspektiven und den Forderungen der Überlebenden und Betroffenen autoritärer Gewalt und autoritären Terrors mit der Absicht, diese gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung zu führen. Gerade die Konstellation des Anschlags in Halle zeigt aber, dass es nicht die eine und einheitliche Perspektive der Betroffenen gibt, sondern dass dazu ganz verschiedene Perspektiven gehören, die nicht einfach auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Genau diese Konstellation macht einerseits die Schwierigkeit kritischer Erinnerung an den Anschlag von Halle aus, aber andererseits stellt sie auch eine Herausforderung dar, die eine umfassende Auseinandersetzung um so notwendiger macht.
Die Überlebenden haben im Laufe des Prozesses immer wieder die Forderung an die Gesellschaft gerichtet, endlich diese Auseinandersetzung über die Ursachen rechter Ideologien und rechter Gewalt zu führen. Das ist genau die Aufgabe, die von der Erinnerung gestellt wird. Diese Aufgabe ist aber nicht schon dadurch zu erfüllen, dass die Perspektiven der Betroffenen angehört werden. Das kann nur der Ausgangspunkt für ihre wirkliche Berücksichtigung sein, die eine Kritik der gesellschaftlichen Bedingungen autoritärer Ideologien bedeuten würde, die von der Gesellschaft insgesamt zu leisten wäre. Der Anschlag von Halle zeigt, wie wichtig die Auseinandersetzung mit den Ideologien ist, aus denen das autoritäre Weltbild zusammensetzt ist. Für die Möglichkeit kritischer Auseinandersetzung und solidarischen Handelns ist es entscheidend, die Ideologien in ihrem spezifischen Verhältnis zueinander zu verstehen, um so der jeweils besonderen Bedeutung, die Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus in dieser intersektionalen Konstellation von Ideologien zukommt, gerecht werden zu können. Die ideologischen Komponenten und deren gesellschaftliche Voraussetzungen müssen in ihren besonderen Gehalten und in ihrem Zusammenhang gesehen, analysiert und kritisiert werden, um ihnen wirksam entgegenwirken zu können.
Es haben sich nach dem Anschlag von Halle solidarische Zusammenhänge von Überlebenden und Betroffenen sowie von Unterstützern gebildet und es haben Diskussionen und Auseinandersetzungen begonnen, die sich damit beschäftigen, wie solidarische Allianzen hergestellt werden können, die alle, die potentiell von autoritärer Gewalt und autoritärem Terror betroffen sind und diejenigen, die solidarisch mit ihnen sind, in ihrem Zusammenwirken gegen autoritäre Potentiale verbinden können. Eine Erinnerung, die die gesellschaftlichen Widersprüche nicht überdecken, sondern aufdecken will, und die deshalb die besondere Konstellation der ideologischen Reaktionsformen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse genau nachverfolgt und von dieser Grundlage her kritisiert, ist dafür ausschlaggebend.
II. (Widersprüche)
Es ergibt sich daraus die Frage, wie aus all diesen Widersprüchen heraus Solidarität hergestellt werden kann. Auch auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten, die sich teilweise zu widersprechen scheinen oder aber sich zumindest nicht ohne weiteres miteinander vereinbaren lassen. Nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 ist die Frage der Bedeutung der Perspektiven der Betroffenen rechter Gewalt für antifaschistische und solidarische Arbeit zu einer zentral diskutierten geworden. Obwohl es 2006 zwei Demonstrationen in Kassel und in Dortmund gab, die aus dem Umfeld von Angehörigen der Mordopfer organisiert waren und forderten, es solle kein zehntes Opfer geben, hatten Antifaschisten die Mordserie des NSU nicht als eine von Neonazis ausgeführte erkannt. Das zeigt, dass in antifaschistischen Zusammenhängen die Perspektiven von Betroffenen rassistischer Gewalt zu wenig beachtet worden waren oder vielmehr, dass sie zu wenig Teil dieser Zusammenhänge waren. Nicht nur der NSU-Komplex, sondern auch viele weitere rechte und rassistische Angriffe, sowohl davor als auch danach, verdeutlichen also, wie notwendig eine Zusammenarbeit von Betroffenen von Rassismus und antifaschistischen Initiativen ist. Der Anschlag von Halle führt aber nun sehr deutlich vor Augen, dass weitere Perspektiven genauso berücksichtigt und einbezogen werden müssen, die in dieser Diskussion bisher keine Rolle spielten. Das betrifft die Perspektiven derjenigen, die von Antisemitismus und von Antifeminismus betroffen sind, also jüdische und feministische Perspektiven.
Eine Antwort, die auf die Frage nach der Möglichkeit der Herstellung von Solidarität gegeben wird, ist die Perspektive der Intersektionalität.1 Dieses aus dem US-amerikanischen Civil Rights Movement und dem Black Feminism hervorgegangene Konzept soll es ermöglichen, die Überschneidung verschiedener Formen von Diskriminierung zu berücksichtigen. In Bezug auf rassistische und geschlechtsbezogene Diskriminierung ist die Forderung nach gleicher juristischer Anerkennung und Berücksichtigung innerhalb der bestehenden Verhältnisse nachvollziehbar und relevant. Es gilt aber auch die Grenzen dieses Konzepts zu sehen und es nicht als universales Konzept der Befreiung misszuverstehen. Ursprünglich ging es in dem Konzept vor allem um die Überschneidungen der Kategorien gender und race, mittlerweile werden immer mehr Kategorien hinzugefügt, die ebenso Diskriminierungen hervorrufen und die daher der Anerkennung und Berücksichtigung bedürfen. Die Herkunft des Konzepts der Intersektionalität aus dem Civil Rights Movement und insbesondere aus der feministischen Rechtstheorie führen dazu, dass dessen Möglichkeiten weitgehend auf den Rahmen des bürgerlichen Rechts und des bürgerlichen Staats begrenzt bleiben. Die Perspektive der Emanzipation, die daraus hervorgeht, ist die einer politischen Emanzipation in die bürgerliche Gesellschaft, die prinzipiell nur die formale Gleichheit der Person kennt. Dieser Status der rechtlichen Gleichheit ist in ihr aber zugleich die Voraussetzung für die Ungleichheit in Produktion und Reproduktion. Das Ergebnis ist eine politische Emanzipation, die den Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit oder Leben und Tod für das einzelne Individuum bedeuten kann, die aber dennoch keine menschliche Emanzipation ist, die das Ende von systematischer Ungleichheit, Ausbeutung und Herrschaft wäre. Als eine dieser Kategorien der Diskriminierung wird teilweise auch Antisemitismus aufgezählt, aber Antisemitismus lässt sich als eine Form von Diskriminierung nicht fassen. Es ist mit dieser legalistischen und liberalistischen Konzeption nur schwer möglich, die Zusammenhänge von Ideologien mit deren gesellschaftlichen Voraussetzungen zu analysieren.
Eine weitere Antwort, die auf die Frage nach Möglichkeiten von solidarischem Zusammenwirken gegeben wird und um die kontrovers gestritten wird, ist die Perspektive der multidirektionalen Erinnerung (Rothberg 2009, 2021).2 Mit diesem Konzept, das aus den akademischen Postcolonial Studies heraus entstanden ist, soll der Versuch unternommen werden, die Erinnerung an unterschiedliche Erfahrungen von Gewalt und Völkermord nicht in ein Verhältnis der Konkurrenz gegeneinander zu setzen, sondern sie in ihrem Verhältnis zueinander zu betrachten und an sie zu erinnern. Konkret geht es dabei vor allem um das Verhältnis von kolonialen Verbrechen und dem Holocaust, was implizit das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus betrifft. Obwohl dabei der Anspruch vertreten wird, der jeweiligen Spezifik gerecht zu werden, kann die Form, in der das geschehen soll, diesen Anspruch nicht erfüllen. Im Konzept der multidirektionalen Erinnerung steht im Mittelpunkt des Interesses, Verbindungen, Bezüge und Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Erinnerungen sichtbar zu machen oder herzustellen, um, basierend darauf, Solidarität zu ermöglichen. Da dabei ein bestimmtes politisches Interesse leitend ist, werden die wirklichen spezifischen Zusammenhänge weitgehend verfehlt und es wird keine realistische Basis geschaffen, von der ausgehend Solidarität entwickelt werden könnte. Der Anspruch, der jeweiligen Spezifik der historischen Ereignisse gerecht zu werden, um auf dieser Grundlage Solidarität herstellen zu können, kann nur erfüllt werden, indem die spezifischen historisch, politisch, gesellschaftlich und ideologisch bestimmten Verhältnisse, in denen die zu erinnernden Ereignisse zueinander stehen, herausgearbeitet werden und diese bestimmte Konstellation als Ausgangspunkt der Herstellung von Solidarität zugrunde gelegt wird.
Diese Problematik ist in verschiedenen Ausprägungen auch bei weiteren Autoren anzutreffen, die versuchen, mit bestimmten politischen Interessen in die Erinnerung einzugreifen, wie Achille Mbembe, A. Dirk Moses oder Aleida Assmann. Das politische Interesse besteht bei diesen und anderen Autoren darin, die vermeintliche Provinzialität der Erinnerung in Deutschland zu kritisieren und die Erinnerung zu dekolonialisieren. Diese Interventionen zielen insbesondere darauf ab, das, was sie als Zentralität der Erinnerung an den Holocaust verstehen, in Frage zu stellen, um eine Erinnerung auch an koloniale Verbrechen zu ermöglichen. Es wird damit eine Situation der Konkurrenz des Erinnerns erst hergestellt, um sie zu kritisieren, denn es ist nicht notwendig die Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust zu relativieren, um an koloniale Verbrechen angemessen zu erinnern. Es besteht kein Verhältnis der Konkurrenz zwischen diesen Erinnerungen, weil es sich um verschiedene Ereignisse handelt, an die jeweils in ihrer Spezifik zu erinnern ist.
Ein wesentliches Motiv für diese Interventionen besteht darin, dass in der akademischen und aktivistischen Kultur ein großer Unterschied zwischen deutschen und globalen Perspektiven besteht, die sich als progressiv verstehen, wenn es um das Verhältnis von Antisemitismus, Antizionismus und Israel geht. In einer global als progressiv und antirassistisch verstandenen Perspektive wird Israel als kolonialer Siedlerstaat angesehen und Zionismus als ein koloniales Projekt. Dadurch werden die Kritik von Antisemitismus, die auch die Kritik von Antizionismus umfasst, und die Kritik von Rassismus einander in einem sich gegenseitig ausschließenden Verhältnis gegenübergestellt. Die strategischen Interventionen, um die es hier geht, sind daher vor allem darauf ausgerichtet, einen Begriff von Antisemitismus zu konstruieren, der ›nicht trennen, sondern zusammenführen‹ soll, wie es Aleida Assmann ausdrückt3, also einen Begriff von Antisemitismus, der Antizionismus ausklammert, wie die Jerusalem Declaration on Antisemitism, die im Gegensatz zur bestehenden Working Definition of Antisemitism der International Holocaust Remembrance Alliance genau dafür entwickelt wurde. Dieses Vorhaben geht aber an der tatsächlichen historischen Entwicklung der gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Verhältnisse vorbei, auf die es bezogen sein soll, und ist daher nicht geeignet, eine Grundlage für solidarische Bezüge herzustellen. Um das tatsächlich zu erreichen, wäre nicht ein Begriff von Antisemitismus zu konstruieren, der zusammenführt statt trennt, sondern umgekehrt, die historische, gesellschaftliche, politische und ideologische Konstellation von Antisemitismus und Rassismus in ihrem bestimmten Verhältnis zueinander und zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen als Ausgangspunkt zu nehmen.
Damit wird die politische Frage der Möglichkeit der Herstellung solidarischer Zusammenhänge zu einer Frage nach der Objektivität oder der Universalität der Erkennbarkeit und dem Universalismus der Befreiung. Wie an der Universalität der Befreiung festgehalten werden kann und zugleich die Partikularität der Perspektiven berücksichtigt werden kann, wird in der feministischen und dekolonialen Kritik diskutiert. In der Konzeption des situierten Wissens geht Donna Haraway davon aus, dass jedes Wissen situiert und damit partikular ist und nur aus der Verknüpfung dieser partikularen Sichtweisen Universalität als kollektive Subjektposition hervorgehen kann. Zudem sieht sie als logische Forderung aus der Anerkennung der Situiertheit des Wissens die Berücksichtigung der Objekte als Akteure an.4 Mit diesen beiden Aspekten, der Notwendigkeit der Verknüpfung partikularer Perspektiven und der Berücksichtigung der Objekte in ihrer Subjektivität, ergibt sich eine Verbindung zum historischen Materialismus, wie er in der kritischen Theorie reformuliert wird. Dort wird bereits gezeigt, dass die Verknüpfung besonderer Elemente einem bestimmten Verhältnis folgen muss, dass in der jeweiligen Bestimmtheit der Objekte, die für die gegenwärtigen Herausforderungen entscheidend sind, begründet liegt. Für Walter Benjamin in Über den Begriff der Geschichte ist es die Aufgabe des historisch-materialistischen Vorgehens, die für die gegenwärtige Situation der Auseinandersetzung entscheidenden historischen Momente aus der Perspektive der Unterdrückten zu versammeln und sie in eine solche Anordnung zueinander zu bringen, die das Kontinuum der Geschichte, also die fortgesetzte Herrschaft und ihre Rechtfertigung durch die Geschichtsschreibung der Herrschenden, aufzusprengen vermag.5 Es kommt auf die bestimmte Konstellation der Elemente der Geschichte zueinander an, damit der Zusammenhang erkennbar wird, der als Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit solidarischen Bezugs lesbar ist. Die richtige Anordnung der historisch-materialistischen Elemente zueinander ergibt damit die Antwort auf die Fragen, die von den Auseinandersetzungen in der Gegenwart gestellt werden. Darin wird der zweite Aspekt, die Berücksichtigung der Subjektivität der Objekte des Erkennens, deutlich: Die einzelnen Perspektiven und Elemente sind in ihrer Eigenständigkeit, in ihrer subjektiven Ausprägung und ihrer inhaltlichen Bestimmtheit in sich zu berücksichtigen. Es gilt, in der Konstruktion der Konstellation, die als Antwort auf die Fragen in den Auseinandersetzungen der Gegenwart lesbar werden soll, dem von Adorno auf Benjamin aufbauend in der Negativen Dialektik konzipierten »Vorrang des Objekts«6 gerecht zu werden.
III. (Voraussetzungen)
Eine Forderung von Überlebenden und Betroffenen autoritärer Gewalt ist es, die Gesellschaft als System, das diese autoritäre Gewalt hervorbringt, zu kritisieren und zu verändern. Mit dieser Ausrichtung der Frage nach den Ursachen wird schon der Übergang von der Ebene individueller Einstellungen und Identitäten zur Ebene der strukturellen Bedingungen vollzogen, der entscheidend ist, um den Zusammenhang der Ideologien und der mit ihnen verbundenen Erinnerungen untereinander und mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu sehen. Von der Ebene der subjektiven Identitätskonstitution ist dabei aber nicht zu abstrahieren, sondern auch hier ist die Verbindung zu betrachten, die zwischen der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene besteht. Um diese Ebenen und ihre Beziehungen zueinander berücksichtigen zu können, ist es notwendig, ein Verständnis dessen zu entwickeln, was Gesellschaft als objektives System auszeichnet.
Gesellschaft als System aufzufassen, bedeutet, sie als einen strukturellen Handlungszusammenhang von Individuen zu begreifen, der diese Strukturen aufrecht erhält, indem er sie reproduziert. Die bürgerliche-kapitalistische Gesellschaft ist eine Gesellschaftsform, in der die politische und die ökonomische Herrschaft in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, das die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Systems ermöglicht und absichert. Es ist gerade das Verhältnis der Trennung des politischen Bereichs vom ökonomischen Bereich und des Zusammenwirkens der voneinander getrennten Bereiche, durch das die Strukturen zustande kommen, die den spezifischen Charakter des bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftssystems darstellen. Diese Trennung bedeutet für den ökonomischen Bereich, dass die Entscheidungen dort als Privatangelegenheiten aufgefasst werden, die prinzipiell nicht der politischen Kontrolle unterliegen. Der politische Bereich, der von seinem Begriff her die kollektive Regelung der Angelegenheiten umfasst, die alle betreffen, wird darauf beschränkt, die Bedingungen für das Funktionieren des als selbstständig angesehenen ökonomischen Bereichs herzustellen und abzusichern. Genau diese Abtrennung oder Verselbstständigung der Bereiche voneinander stellt aber auch die Verselbstständigung der Gesellschaft als objektive Struktur her, die sie als System konstituiert.
Diese Abtrennung der politischen Kontrolle vom ökonomischen Bereich bei gleichzeitigem Zusammenwirken als System insgesamt bedingt zugleich den Charakter dieses Systems als eines Systems apersonaler Herrschaft. Das bedeutet, dass es sich dabei nicht um ein System personaler Herrschaft und der Aneignung des Mehrprodukts handelt, wie beispielsweise in Feudalsystemen, sondern Herrschaft und Aneignung vermittelt durch das bürgerliche Recht stattfinden, in dem alle einander als freie und gleiche Personen gegenübertreten. Dies ist möglich, weil das Handeln im ökonomischen Bereich, der Sphäre von Produktion und Reproduktion, als private und nicht als öffentliche Angelegenheit behandelt wird und damit die ökonomischen Besitzverhältnisse zum entscheidenden Faktor für die gesellschaftliche Position werden. Das führt zu einer Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen, wobei die eine Klasse Produktionsmittel besitzt und die andere nicht. Für diejenigen, die keine Produktionsmittel besitzen, gilt der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse«, den Karl Marx in seiner Darstellung im Kapital kritisiert7, gerade weil sie im bürgerlichen Recht freie und gleiche Personen sind, die aber keine Produktionsmittel besitzen und daher gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um überleben zu können. Sie sind doppelt freie Lohnarbeiter, frei als Rechtssubjekt und frei von Produktionsmitteln, und unterliegen eben durch diese Freiheit der Herrschaft. Die abstrakt allgemeine Freiheit als Staatsbürger ist die Bedingung der konkreten Unfreiheit als Privatbürger und die autonome Subjektivität, die im politischen Bereich beansprucht wird, hat sich im ökonomischen Bereich der Despotie des Kapitals zu fügen.
Diese Funktionsweise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als einer objektiv bestehenden und gegenüber den Einzelnen vorgängigen Struktur, deren Verselbstständigung ihr den Charakter objektiven Zwangs verleiht, setzt alle in ein Verhältnis des Gegeneinanders und der Konkurrenz. Dieses Verhältnis der allgemeinen Konkurrenz und der Abhängigkeit von Bedingungen, über die sie als Einzelne nichts vermögen, stellt eine Situation her, in der die Einzelnen vereinzelt sind und der daraus resultierenden Ohnmacht nur durch Anpassung an die bestehenden Verhältnisse scheinbar entgehen können. Diese Anpassung ist verbunden mit einer Aufgabe des Anspruchs auf rationale individuelle und kollektive Selbstbestimmung und mit gewaltsamer Unterdrückung eigener innerer Ansprüche und Wünsche. Trotz dieser permanent verlangten und unternommenen Anstrengungen der Anpassung bleiben deren Resultate unter den irrationalen gesellschaftlichen Bedingungen immer unsicher und bedroht. Sowohl die Identifikation mit dem bestehenden gewaltförmigen System als auch die Versagungen, die einerseits durch die Selbstdisziplinierung abverlangt werden und andererseits von den irrationalen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgehend erfahren werden, sowie die in diesen Verhältnissen ständig bestehende Unsicherheit, bringen die ideologischen und autoritären Potentiale systematisch hervor.8 Weil die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft eine antagonistische Form der Gesellschaft ist, die nicht trotz, sondern durch ihre Widersprüche aufrechterhalten und reproduziert wird, enthält sie notwendig die Spaltungen, die sowohl zu gesellschaftlicher als auch subjektiver Zerrissenheit führen.9 Wird die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft nicht als das antagonistische System apersonaler Herrschaft erkannt, das sie ist, führt das beinahe unausweichlich zur Anwendung personalisierender Formen der vermeintlichen Abwehr gegenüber den destruktiven Folgen ihrer konstitutiven Widersprüche. In eben dieser Form der Gesellschaft als einem antagonistischen und verselbstständigten System bestehen aber auch die »Grenzen der Aufklärung«10, die eine radikale Kritik und eine Veränderung der Form des sozialen Zusammenhangs zur notwendigen Erfordernis von solidarischem Verhalten machen.
IV. (Konstellation)
Eine Antwort, die diesen Ansprüchen zu entsprechen in der Lage ist, die also sowohl Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus hinreichend zu berücksichtigen als auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen von Ideologien analytisch zu fassen vermag, besteht in der Perspektive der Intersektionalität von Ideologien (Stögner 2017, 2021).11 In diesem Modell erscheinen die Ideologien nicht als eine Aufzählung verschiedener Diskriminierungsformen, die sich überschneiden können, sondern in ihrem bestimmten Verhältnis zur gesellschaftlichen Totalität von Produktion und Reproduktion und damit in ihrem bestimmten Verhältnis zu ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen und zueinander. Es wird damit deutlich, dass die Ideologien, die in autoritären Weltbildern miteinander verbunden sind, nicht zufällig zusammentreffen und deshalb auch nicht erst zusammengedacht werden müssen, weil sie schon in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, welches durch ihre gesellschaftlichen und historisch-materialistischen Voraussetzungen bestimmt wird. Dadurch wird es möglich, die scheinbare Konkurrenz und den unaufhörlich erscheinenden Widerstreit der Erinnerungen aufzuheben in ein Zusammenwirken, in dem die jeweiligen Erinnerungen in ihrer Eigenständigkeit anerkannt und berücksichtigt werden. Erreicht werden kann das dadurch, dass die Analyse und die daraus folgende Kritik in diesem Modell auf die strukturelle Ebene der Bildung von Ideologien konzentriert wird.
Die Subjekte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sind durch die gesellschaftliche Abspaltung des politischen vom ökonomischen Bereich gespalten in ein abstraktes Rechtssubjekt als abstraktes gesellschaftliches Allgemeines einerseits, das aber insofern als Agentur des Zwangs zur Anpassung und Disziplinierung fungiert, als sie ihre Arbeitskraft scheinbar frei verkaufen, um andererseits als empirische Subjekte als Ware Arbeitskraft als konkretes gesellschaftliches Allgemeines »dem Mechanismus einer sie verwertenden Zurichtung« unterworfen zu sein.12 Als abstrakte Rechtssubjekte sind die Subjekte in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft frei, sich dem Zwang zu Anpassung, Zurichtung und Verwertung als empirische Subjekte zu unterwerfen. Weil sich die abstrakte Freiheit der Rechtssubjekte, die zugleich die Freiheit der politischen Subjekte ist, als Freiheit zum Zwang, zur Zurichtung und zur Verwertung erweist, wird sie zum notwendigen Schein in Bezug zu der empirischen Unfreiheit. Dieser Widerspruch im bürgerlichen Subjekt, der aus dem Widerspruch in der Form der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, ist der Grund für die Permanenz des autoritären Charakters und für die Anfälligkeit für Ideologien und somit für autoritäre Potentiale.
Da die Einzelnen als Subjekte der bürgerlichen Gesellschaft ständig diesem Widerspruch ausgesetzt sind und dadurch gezwungen sind, Umgangsweisen oder Bearbeitungsformen dafür zu finden, ist das Potential für ideologische Formen der Bearbeitung permanent gegeben. Ideologische Formen beruhen auf »falscher Projektion«13, wobei das Falsche dabei nicht die Projektion an sich ist, da sie zu aller Wahrnehmung gehört, sondern der Mangel an Reflexion in der Verarbeitung der Eindrücke der Außenwelt. Die notwendige Reflexion besteht dabei darin, die Gegenstände oder Objekte der Wahrnehmung in ihrer Eigenart und in ihrer Komplexität zur Geltung kommen zu lassen, und nicht davon auszugehen, allein mit den im Subjekt der Wahrnehmung bereits vorhandenen Begriffen und Kategorien oder Stereotypen seien schon gültige Aussagen über sie zu treffen. Findet diese Reflexion nicht statt, ist die Gefahr sehr hoch, dass eine der Wirklichkeit nicht entsprechende Vorstellung als deren korrekte Wiedergabe betrachtet wird.
In der widersprüchlichen Situation der Spaltung der Gesellschaft und ihrer selbst, in der sich die bürgerlichen Subjekte befinden, ist eine naheliegende und für das Funktionieren in dieser verkehrten Form der Gesellschaft realitätsgerechte Abwehr- und Bearbeitungsform, die Projektion von widersprüchlichen Momenten der Gesellschafts- und Subjektform nach Außen, genauer auf bestimmte Personen, die als Teile bestimmter Gruppen wahrgenommen werden. Dabei lässt sich ein bestimmtes Verhältnis unterschiedlicher falscher Projektionen zueinander und zum gesellschaftlichen Zusammenhang erkennen. So werden Juden im Antisemitismus als das »als Konkretes vorgestellte Abstrakte«14 angesehen. Darin ist die Projektion des abstrakten gesellschaftlichen Allgemeinen, also des abstrakten Rechtssubjekts und des abstrakten politischen Subjekts, auf Personen, die als Mitglieder der als Gruppe aufgefassten Juden zugerechnet werden, erkennbar. Die Instanz in der Gesellschaft und im Subjekt selbst, die den stummen Zwang ausübt, wird abgespalten und auf Juden projiziert. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schreiben deshalb in den in der Dialektik der Aufklärung enthaltenen Elementen des Antisemitismus, der bürgerliche Antisemitismus habe »einen spezifischen ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion«.15 Wird die Ursache von Ausbeutung und Zwang nicht im System gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion als Ganzem erkannt, erfolgt eine Verschiebung in den Bereich von Handel und Finanz: »Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein«.16
Die Ideologie des Antisemitismus ist daher als irrationale Verarbeitungs- und Abwehrform des und gegenüber dem objektiven Zwang, der aus der Form der Gesellschaft hervorgeht und Teil der bürgerlichen Subjektform selbst ist, anzusehen. Es ist der Versuch der empirischen Subjekte, die als Ware Arbeitskraft das konkrete gesellschaftliche Allgemeine darstellen, den Zwang des abstrakten gesellschaftlichen Allgemeinen, den sie als Rechtssubjekte und politische Subjekte gegen sich selbst als empirische Subjekte ausüben, durch personalisierende Projektion abzuwehren. Es ist die »Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herrschaft«, die »unmittelbar der Herrschaft nutzbar« gemacht wird17, da die Mechanismen der Herrschaft durch sie nicht beendet, sondern noch ausgeweitet werden. Die ideologische Figur der Verkörperung des abstrakten gesellschaftlichen Allgemeinen bedingt die Kombination aus Macht und Nichtidentität, die in der antisemitischen Projektion auf Juden sichtbar wird und die sie als hinter Kommunismus und Kapital, Feminismus und Rassismus zugleich stehend erscheinen lässt. Da sie in der antisemitischen Ideologie als diese Personifikation des abstrakten gesellschaftlichen Allgemeinen betrachtet werden, von denen Herrschaft und Zwang ausgehen, und sie somit als Ursache der Widersprüche und Konflikte in der Gesellschaft schlechthin aufgefasst werden, ist in dieser irrationalen Abwehrform die vollständige Ermordung aller Juden als Prinzip angelegt. Darin liegt die Spezifik des Antisemitismus, die in der Shoah zur grausamen Realität gemacht wurde.
Die andere Seite des gespaltenen Zusammenhangs von Gesellschaftsform und Subjektform, die des empirischen Subjekts, das als Ware Arbeitskraft sich selbst dem abstrakten gesellschaftlichen Allgemeinen zu unterwerfen und zu disziplinieren hat, das es als Rechtssubjekt und als politisches Subjekt zugleich auch darstellt, ruft eigene ideologische Verarbeitungs- und Abwehrformen hervor. Die Disziplinierung und Unterdrückung eigener Bedürfnisse und Wünsche, die Härte gegenüber der eigenen inneren Natur, das Opfer des lebendigen Selbst, das zu erhalten eigentlich die Bestimmung des sozialen Produktions- und Reproduktionszusammenhangs wäre, durch den Zwang, den das abstrakte Subjekt dem empirischen Subjekt auferlegt, werden abzuwehren versucht, indem sie auf rassifizierte oder per Geschlecht bestimmte andere real verschoben und auch projiziert werden. Sie werden zu Objekten gemacht, an denen Naturbeherrschung vollzogen werden soll, weil sie als Naturwesen als natürliche Objekte der Herrschaft betrachtet werden, und es werden die eigenen verleugneten und unterdrückten Bedürfnisse und Wünsche auf sie verschoben, die dort dann um so grausamer beherrscht und unterdrückt werden sollen. Rassismus und geschlechtliche Unterdrückung als ideologische gesellschaftliche Formen fungieren dabei immer auch zur Rechtfertigung ungleicher Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen, unterschiedlicher rechtlicher Positionen, für Überausbeutung und unbezahlte Arbeit und für Praktiken personaler Herrschaft, also zur Legitimation von Ungleichheit im System allgemeinen Tauschs und allgemeiner Konkurrenz.
Es wird deutlich, wie in diesen ideologischen Verarbeitungs- und Abwehrformen, die gespaltenen und auseinandergerissenen Seiten der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform und der dazugehörigen Subjektform gegeneinander gerichtet und auf verschiedene Personen verschoben werden, die durch diese Projektionen als Gruppen mit bestimmten Merkmalen und Eigenschaften konstituiert werden. Diese verschiedenen ideologischen Projektionen haben voneinander unterschiedene politische und praktische Konsequenzen, auf der einen Seite Politiken der Beherrschung oder des Ausschlusses der als zu beherrschende Natur kategorisierten, rassifizierten und geschlechtlicher Unterdrückung unterworfenen menschlichen Individuen, die bis zu Sklaverei und Genoziden reichen, auf der anderen Seite die Politik der vollständigen Ermordung der als Verkörperung abstrakter Herrschaft betrachteten Juden im Antisemitismus. Es wird damit eine bestimmte Konstellation geschichtlicher und materieller Momente und eine dadurch bestimmte Anordnung ideologischer Elemente erkennbar, die als Antwort auf die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen autoritärer Ideologien und nach den daraus hervorgehenden Möglichkeiten solidarischer Zusammenarbeit und solidarischer Bündnisse lesbar wird.
Die in der Darstellung zu erkennende Konstellation zeigt nicht nur ein bestimmtes Verhältnis der Ideologien zueinander, sondern vor allem auch ein bestimmtes Verhältnis, das dabei zur Form der Gesellschaft besteht. Sie lässt damit die entscheidende Bedeutung erkennbar werden, die der Auseinandersetzung mit der Form der Gesellschaft und deren Kritik und Veränderung für den Abbau autoritärer Potentiale zukommt. Sie zeigt, dass eine demokratische, offene und solidarische Gesellschaft nicht besteht, sondern eine solche Form des sozialen Zusammenwirkens erst hergestellt werden muss. Ein Vorgehen, das nicht geeignet ist, die gesellschaftlichen Voraussetzungen der falschen Projektionen zu kritisieren und zu verändern, besteht darin, sich mit Betroffenen autoritärer Gewalt zu identifizieren. Elementar ist es dafür, von der Perspektive der Betroffenen auszugehen, aber die Angehörigen der deutschen Mehrheitsgesellschaft können weder auf die Seite der Juden übergehen, indem sie die Kritik des Antisemitismus und die Solidarität mit Israel zu ihrem Hauptanliegen machen, noch können sie auf die Seite von Betroffenen von Rassismus oder geschlechtlicher Unterdrückung übergehen, indem sie sich als deren Allies vor allem dafür verantwortlich fühlen, deren Stimmen zu Gehör zu bringen. Das sind zwei verschiedene Formen, der Auseinandersetzung mit der Schuld der deutschen Mehrheitsgesellschaft und mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen autoritärer Ideologien auszuweichen. Umgekehrt würde die Anerkennung der Schuld der Mehrheitsgesellschaft und der Verstrickung der eigenen Herkunftsgeschichte mit dieser Schuld gerade die radikale Kritik des gesellschaftlichen Systems der Herrschaft verlangen, das von allen reproduziert wird.
Die radikale Kritik und die Abschaffung der Verhältnisse, die ideologische und autoritäre Potentiale systematisch hervorbringen, würde es erfordern, die strukturelle Spaltung der Gesellschaft zurückzunehmen, in der Unfreiheit das Resultat bürgerlicher Freiheit ist. Solange der soziale Zusammenhang darin besteht, dass das abstrakte gesellschaftliche Allgemeine abgespalten ist und sowohl als verselbstständigte soziale Vermittlungsform als auch als Zwangsinstanz des bürgerlichen Subjekts selbst fungiert, dem die empirischen Subjekte sich beugen müssen, sofern sie in dieser irrationalen sozialen Form ihr Leben zu sichern sich gezwungen sehen, werden die ideologischen und autoritären Potentiale bestehen bleiben. Die politische Emanzipation, also die rechtliche Gleichstellung aller als gleiche politische Subjekte und Rechtssubjekte, ist ein großer Fortschritt18, aber zugleich innerhalb der bestehenden Verhältnisse die Grenze der Emanzipation, weil sie als Befreiung nur des politischen Subjekts und des Rechtssubjekts die Unterwerfung des empirischen Subjekts unter den gesellschaftlichen Zwangsmechanismus bedeutet, der aus der Verselbstständigung des politischen Bereichs resultiert. Nur die menschliche Emanzipation, mit der die Aufspaltung in den politischen Bereich als abstraktem gesellschaftlichen Allgemeinen und in den ökonomischen Bereich, in dem die empirischen Subjekte als Ware Arbeitskraft das konkrete gesellschaftliche Allgemeine sind, und die damit verbundene Verselbstständigung der Form sozialer Vermittlung zurückgenommen wird, würde den gesellschaftlichen Zwangsmechanismus beenden, der mit dem Zwang zur Anpassung systematisch ideologische und autoritäre Potentiale hervorbringt.
Ein konsequenter Antifaschismus, wie ihn die Erinnerung erfordert, hätte sich danach zu richten, um die Ursachen des Geschehenen außer Kraft zu setzen. Für diese Aufarbeitung der Vergangenheit, die noch immer als Aufgabe besteht, weil sie bislang unerledigt geblieben ist, sind antifaschistische Bündnisse notwendig, die mit der Ausrichtung auf menschliche Emanzipation die Antwort auf die Konstellation der historischen und materiellen Elemente geben. Antifaschistische Solidarität würde also gerade aus der Konstellation von Kritik hervorgehen, die den Zusammenhang in den gesellschaftlichen Verhältnissen erkennen kann. Die Konstellation von verschiedenen historischen und materialistischen Elementen als Verfahren der Darstellung von Wahrheit, die im objektiven Zusammenhang des Vergangenen vorhanden ist, und der Kritik, die als Erfahrung der Erkennbarkeit des Vergangenen in der Gegenwart »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«19 vermag, erweist sich damit zugleich als Verfahren, durch Erinnerung solidarische Bündnisse herzustellen.
1Kimberle Crenshaw, »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics«, in: University of Chicago Legal Forum. 8, 1989., Kimberle Crenshaw, »Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color«, in: Stanford Law Review, 43, 6, 1991.
2Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford: 2009., Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Bonn: 2021.
3Aleida Assmann, Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten, Norddeutscher Rundfunk, 14 Mai 2020; online: https://web.archive.org/web/20210119063439/https://www.ndr.de/kultur/Aleida-Assmann-Wo-viel-Licht-ist-ist-auch-viel-Schatten,mbembe102.html, abgerufen am 18.01.2022
4Donna Haraway, »Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective«, in: Feminist Studies, Vol. 14, No. 3, 1988.
5Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Band I-2, Frankfurt (M.), 1991, S. 693-704.
6Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, Band 6, Frankfurt (M.), 2003, S. 7-412, hier S. 185.
7Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, Marx-Engels-Werke, Band 23, Berlin, 1975, S. 765.
8Vgl. Theodor W. Adorno, »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, in: Gesammelte Schriften, Band 10.2, Frankfurt (M.), 2003, S. 555-572, hier S. 566f.
9Vgl. Theodor W. Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik, Nachgelassene Schriften, Band , Frankfurt (M.), 2003, S. 20.
10Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt (M.), 1987, S. 13-290, hier S. 238.
11Karin Stögner, »Intersektionalität von Ideologien – Antisemitismus, Sexismus und das Verhältnis von Gesellschaft und Natur«, in: Psychologie & Gesellschaftskritik, 41, 2, 2017, S. 25-45., Karin Stögner, »Intersektionalität zwischen Ideologie und Kritik«, in: Heiko Beyer, Alexandra Schauer (Hg.). Die Rückkehr der Ideologie. Zur Gegenwart eines Schlüsselbegriffs, Frankfurt (M.), 2021, S. 431-466.
12Klaus Heinrich, psychoanalyse sigmund freuds und das problem des konkreten gesellschaftlichen allgemeinen, Dahlemer Vorlesungen 7, Frankfurt (M.), 2001, S. 110.
13Horkheimer / Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 217.
14Ingo Elbe, »“… it’s not systemic” Antisemitismus im postmodernen Antirassismus«, erweiterte und überarbeitete Version des in »Gestalten der Gegenaufklärung. Untersuchungen zu Konservatismus, politischem Existentialismus und Postmoderne«, Würzburg, 2021 erschienenen Textes, S. 11; online: https://www.rote-ruhr-uni.com/cms/texte/article/it-s-not-systemic-658, abgerufen am 11.11.2021.
15Horkheimer / Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 202.
16Ebd., S. 204.
17Ebd., S. 215.
18Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Marx-Engels-Werke, Band 1, 347-377, Berlin, 1969, S. 356.
19Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 702.