Der Versuch kritische Erinnerung zu organisieren. Erste Erfahrungen nach dem Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle

veröffentlicht in: Gegen rechten Terror. Kontinuitäten durchbrechen! Reader II, Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken, Mai 2021

Als Initiative haben wir uns Anfang 2020 zusammengefunden, um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Bedingungen des antisemitisch, rassistisch und antifeministisch motivierten Anschlags vom 9. Oktober 2019 zu fordern. Wir wollen uns gegen die Schlussstrichmentalität der Stadt Halle und der Bundesrepublik stark machen, die nur der bürgerlichen Selbstvergewisserung dient. Wir sind überzeugt davon, dass es die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse sind, die rechtsgerichtete Potentiale und rechten Terror immer wieder hervorbringen. Zu allgegenwärtig sind Rassismus, Antisemitismus, Frauen*feindlichkeit und andere gruppenbezogene Gewalt, als dass sie als Ausnahmeerscheinungen oder Einzelfälle bezeichnet werden könnten. Der Anschlag am 9. Oktober 2019 ist nicht aus einem luftleeren Raum heraus passiert, sondern die Ideologie, die den Täter zum Anschlag motivierte, entspringt einem gesamtgesellschaftlichen Klima. Im Prozess gegen den Attentäter von Halle, der von Juli bis Dezember 2020 stattfand, wurde erkenntlich, dass die deutsche Justiz kein Interesse hatte, die Tat in einem größeren Kontext aufzuarbeiten. Die Bemühungen der Generalbundesanwaltschaft, Ideologie und Vernetzung des Täters, sowie Parallelen zu ähnlichen Taten – wie den Anschlag von Christchurch – zu ergründen, blieben unzureichend.

Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Bedingungen rechter Ideologie ist und bleibt daher notwendig. Erinnerung muss aus unserer Sicht dieser Aufgabe dienen. Ein Erinnern, das die gesellschaftlichen Widersprüche nicht überdecken, sondern aufdecken will, ist dafür ausschlaggebend. Deshalb muss die Ideologie, dessen Manifestation und Anschlusspotential im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse genau betrachtet und von dieser Grundlage her kritisiert werden. Die offizielle Erinnerungspolitik konzentriert sich auf das Schaffen von Sichtbarkeit, wie dies die an den Tatorten angebrachten Gedenktafeln zeigen. Sie verweigert die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen von rechter Ideologie und von rechtem Terror, weil diese die bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse selbst betreffen würde.

Die Arbeit der Initiative im vergangenen Jahr konzentrierte sich auf Kundgebungen und -aktionen, die Begleitung des Gerichtsprozesses sowie die mediale Sichtbarmachung des Anschlags und seiner Folgen. Am 21. Juli 2020, einen Tag vor Beginn des Prozesses, fand unsere erste Kundgebung in Halle statt und damit begann auch die sichtbare Arbeit der Initiative. Kundgebungen sind seitdem ein fester Bestandteil unserer Arbeit geblieben. Wir haben gemeinsam mit vielen anderen Gruppen und Einzelpersonen sowohl die Kundgebungen vor dem Gericht als auch unterschiedliche Kundgebungen in Halle (mit-)organisiert.

Beispielhaft möchten wir hier zwei Kundgebungen hervorheben.

Als erstes die Kundgebungen, die an jedem Verhandlungstag vor dem Gericht stattgefunden haben. Diese haben parallel zum Prozess deutlich gemacht, dass in dem Gericht nur die individuelle Schuld des Täters verhandelt wird und der Staat mit der Verurteilung einen Schlussstrich ziehen will. Die Kundgebungen gaben Betroffenen und Menschen, die schon lange zu rechten Ideologien arbeiten, die Möglichkeit, das Narrativ des isolierten Einzeltäters zu widerlegen und die breite, gesellschaftliche Basis, auf welcher der Täter steht, zu verdeutlichen.

Im Verfahren haben die Nebenkläger*innen und ihre Anwält*innen ebenfalls immer wieder dieses Narrativ durchkreuzen können und die gesamtgesellschaftliche Dimension mit in den Gerichtssaal gebracht. Das mussten sie aber häufig gegen den Widerstand der Generalbundesanwaltschaft machen. Um diese Kritik noch einmal in einem selbstbestimmten Rahmen vor der Presse und anwesenden Personen zu äußern, waren diese Kundgebungen ein sehr wichtiger Ort. Sie stellten auch ganz praktisch einen Rückzugsort für alle dar, die zum Verfahren gekommen waren und einen Ort, an dem sich unterschiedlichste Gruppen vernetzen konnten.

Am 7. Oktober 2020 fand in Halle eine Kundgebung statt, die wir gemeinsam mit der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) organisiert haben. Diese hatten eine praktische Hilfe in Form eines Spendenaufrufs für İsmet und Rıfat Tekin – den beiden Betreibern des Kiezdöners, wo der Attentäter Kevin S. ermordete – organisiert. Die Hilfe und Unterstützung, die ihnen von Stadt und Staat versprochen wurden, sind entweder gar nicht umgesetzt worden oder nur auf Nachfrage, was für die Betroffenen einen erheblichen Aufwand bedeutete.

Für die symbolische Übergabe der gesammelten Spenden unterstützten wir die JSUD dabei, eine Kundgebung in Halle zu organisieren. Die Übergabe fand während des jüdischen Feiertags Sukkot statt und Rabbiner Jeremy Borovitz, der selbst am Tag des Anschlags in der Synagoge war, erzählte über die Bedeutung von Sukkot und sprach ein Gebet im Rahmen der Kundgebung. Neben den vielen Redebeiträgen konnte so ein kleines Stück jüdisches Leben in Halle sichtbar werden.

Die Kundgebung war eine Möglichkeit für uns, unabhängig vom Staatsgedenken an die beiden Getöteten Jana L. und Kevin S. zu erinnern und die praktische Solidarität zu leben, die in vielen Reden eingefordert wird, aber am Ende häufig ausbleibt.

Zur Kritik des staatlichen Gedenkens und des Prozesses und zur Verdeutlichung von deren Versäumnissen haben wir anlässlich des Jahrestages eine Broschüre geschrieben. Diese betrachtet unter anderem die Hintergründe des Anschlags und die Ideologie des Attentäters. Sie soll einen Anstoß dazu geben, sich mit den Leerstellen des Verfahrens und der Abwehr einer echten Auseinandersetzung mit den Bedingungsfaktoren dieser Tat zu beschäftigen.

Einen wichtigen Teil unserer bisherigen Arbeit umfasste die Begleitung des Verfahrens in Magdeburg. Wir wollten dabei vor allem den Nebenkläger*innen und ihren Anwält*innen unsere Solidarität zeigen und ihren Worten zuhören.

Sie haben es geschafft, das Verfahren zu prägen und, soweit es möglich war, zu öffnen, um den gesamtgesellschaftlichen Hintergrund in den Gerichtssaal zu holen und die historische Kontinuität rechten Terrors in Deutschland auf verschiedene Weise zu verdeutlichen.

Valentin Hacken und Christina Brinkmann haben mit ihrem Podcast ‚Halle nach dem Anschlag‘ jeden Verhandlungstag noch einmal nachbesprochen. Sie und die Menschen von democ. (Zentrum für demokratischen Widerstand) waren für uns neben unseren eigenen Beobachtungen eine wertvolle Quelle aus dem Gerichtssaal. Für uns war es wichtig, besonders die Sichtweisen der Betroffenen weiter zu kommunizieren. Außerdem haben wir versucht aufzuzeigen, dass die Voraussetzungen rechter Gewalt auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft existieren. Natürlich waren wir schockiert von dem Unwissen der Ermittlungsbehörden, jedoch nicht überrascht.

Dabei war es zwar einerseits wichtig, die völlig unzureichende Ermittlungsarbeit des Bundeskriminalamtes zu kritisieren, andererseits noch relevanter, auf die offensichtlichen Leerstellen und falschen Annahmen hinzuweisen.

Dafür haben wir neben Twitter und Instagram auch versucht, traditionelle Medien anzusprechen und dem Narrativ der unschuldigen Mitte dort zu widersprechen.

Mit dem ersten Verhandlungstag war es zentral, immer wieder auf die Forderung der Nebenklage hinzuweisen, dem Täter keine Bühne zu geben und sich stattdessen auf die Betroffenen zu konzentrieren. Dass sich viele Medienvertreter*innen daran gehalten haben – zum Beispiel auf Namen und Foto des Angeklagten zu verzichten – ist eine Besonderheit dieses Prozesses. Anders lief es etwa im Prozess gegen den Mörder von Walter Lübcke: Hier wurde das Narrativ des Täters, der einige Jahre vor dem Mord bereits einen Geflüchteten, Ahmed I., mit einem Messer angriff, in den Medien oft unkritisch nacherzählt. Auch der Name des Täters wurde ständig wiederholt, was seinen Bekanntheitsgrad in der extrem rechten Szene noch gesteigert hat.

Das Agieren der Nebenkläger*innen während des Prozesses in Magdeburg hat gezeigt, dass es eine Antwort auf rechten Terror und rechte Mobilisierung gibt: Solidarität! In diesem Sinne werden wir unsere Arbeit fortsetzen und unabhängig von Jahrestagen das Thema immer wieder präsent halten.