Redebeitrag auf der Kundgebung »Solidarität mit den Betroffenen, keine Bühne dem Täter!« zum Beginn des Prozesses am 20. Juli 2020 in Halle
Wir sind heute hier zusammengekommen, weil wir den rechtsextremen Anschlag in Halle, gegen dessen Täter morgen der Prozess eröffnet werden wird, ernst nehmen und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dessen Bedingungen und Konsequenzen einfordern und selbst dazu beitragen wollen. Ein unhintergehbarer Ausgangspunkt ist dabei die Perspektive der Betroffenen des Anschlags im Besonderen und von rechter Gewalt im Allgemeinen.
Die Perspektive der Betroffenen als Ausgangspunkt zu nehmen, bedeutet, anzuerkennen, das rechte Gewalt und rechter Terror darauf ausgerichtet sind, ihre Existenz in dieser Gesellschaft zu beenden und sie physisch zu vernichten und zu vertreiben. Dem gilt es, sich aus einer Perspektive universaler Menschlichkeit entgegenzustellen.
Was bedeutet aber dieses Entgegenstellen. Es bedeutet einzufordern und dazu beizutragen, sich mit den Bedingungen und Tendenzen innerhalb dieser Gesellschaft auseinanderzusetzen, die rechte Potentiale entstehen und bestehen lassen. Es bedeutet, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es eine lange Kontinuität rechter und rechtsextremer Netzwerke und Strukturen innerhalb der bestehenden Gesellschaft gibt. Es bedeutet dann aber auch, danach zu fragen, warum es diese rechten Strukturen überhaupt so dauerhaft gibt und was die Bedingungen ihrer Existenz sind. Warum gibt es eine strukturelle Tendenz innerhalb der Sicherheitsapparate, rechten Terror und rechte Strukturen nicht ernst zu nehmen und selbst eher politisch rechts ausgerichtet zu sein? Warum werden Betroffene von antisemitischer, rassistischer und frauenfeindlicher Gewalt tendenziell eher im Stich gelassen und erfahren nur wenig Unterstützung, selbst wenn sie dem Recht nach gleichgestellt sind? Warum werden rechte Potentiale und rechtsextreme Bewegungen von Vertreter*innen politischer Parteien und staatlicher Institutionen so auffällig oft verharmlost?
Wenn wir uns ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, was die Bedingungen der Existenz rechter Potentiale sind, dann kommen wir nicht umhin, uns mit deren Entstehungsbedingungen innerhalb der bestehenden bürgerlich-demokratischen Gesellschaft selbst auseinanderzusetzen. Es gilt zu erkennen, dass diese Tendenzen aus der Mitte der bestehenden Gesellschaft selbst heraus entstehen und nicht etwas sind, was sie von Außen angreift.
In der Mitte dieser Gesellschaft und aus ihr heraus gibt es eine lange Kontinuität von Antisemitismus, von Rassismus, von Antifeminismus, von Sozialdarwinismus und von Antiemanzipation. Im rechtsextremen Weltbild werden diese Tendenzen mit der Bereitschaft ihrer gewaltsamen Durchsetzung radikalisiert.
Die bürgerlich-demokratische Gesellschaft ist nicht nur eine bürgerlich-demokratische sondern auch eine kapitalistische Gesellschaft, die von tiefen Widersprüchen durchzogen ist, die sie aus sich selbst heraus produziert. Als kapitalistische Gesellschaft ist sie aber auch eine Gesellschaft in der die Mechanismen und Funktionsweisen von Ausbeutung und Herrschaft nicht offensichtlich, sondern in die ökonomischen Produktionsverhältnisse und die politischen Verhältnisse der Demokratie verkleidet sind. Genau das ist der Grund für das Entstehen und das beständige Bestehen ideologischer Auffassungen über die Ursachen von ökonomischer Ausbeutung, von politischer Herrschaft, von existenzieller Unsicherheit und über Möglichkeiten des Zugangs zum gesellschaftlichem Reichtum und zu gesellschaftlicher Mitbestimmung.
Die Ideologie des Antisemitismus in der Gegenwart projiziert und personalisiert vor allem die anonymen und abstrakten Bewegungen der kapitalistischen Produktionsweise und insbesondere diejenigen der Finanzsphäre, als deren elementarer Bestandteil, auf jüdische Menschen, als eine bestimmte Gruppe von Menschen, die gerade als durch die ihr zugeschriebenen negativen Eigenschaften ausgezeichnet verstanden wird, nachdem sie schon durch eine lange Geschichte des christlichen Antijudaismus, die auch immer wieder mit Pogromen und Vertreibungen einherging, in die Rolle des inneren Feindes gebracht wurde. Die Ideologie des Rassismus dient der Rechtfertigung der Überausbeutung und der Aufrechterhaltung von Herrschafts- und Machtverhältnissen, die bestimmte Menschengruppen aufgrund ihnen zugeschriebener Merkmale als minderwertig ansieht und sie von einem gleichberechtigten Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum und zu gesellschaftlicher Mitbestimmung noch innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse ausschließt, um die eigenen Ansprüche innerhalb der allgemeinen Konkurrenz zu sichern. Die Ideologie des Antifeminismus ist als Reaktion auf das schon lange andauernde Brüchigwerden traditionell-patriarchaler gesellschaftlicher Strukturen und Rollenverständnisse zu verstehen, das einerseits aus der auflösenden Bewegung der widersprüchlichen Entwicklungen bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften selbst, andererseits aber auch aus Kämpfen um die Emanzipation von traditionell-patriarchaler Herrschaft hervorgeht und das in dieser Ideologie als bedrohlicher Angriff auf männliche Vormacht und die traditionelle Familie und damit als ein Angriff auf die traditionelle Ordnung und Stabilität der Gesellschaft überhaupt angesehen wird.
In der im rechten Denken weitverbreiteten Vorstellung von einem »großen Austausch«, wie sie auch der Täter von Halle vertritt, werden all diese und weitere ideologische Elemente in einer Intersektionalität der Ideologien miteinander verbunden. Der Täter von Halle hat dieses rechtsextreme Gedankengebäude in seinem Videostream in wenigen Worten sehr deutlich mitgeteilt: Der Feminismus führe dazu, dass die weißdeutschen Frauen weniger Kinder bekämen, was als Begründung für die Einwanderung von Außerhalb diene, dahinter aber würden die Juden stecken. Innerhalb dieser ideologischen Vorstellungswelt erscheint diese Situation als Not- und Abwehrsituation, die Gewalt legitimiert und dazu aufruft, den vorgestellten Angriff auf die vorgestellte Ordnung gewaltsam abzuwehren. Jüdinnen und Juden erscheinen darin als erstes Ziel, da sie als die eigentlichen Verursacher der Unordnung und Destruktivität angesehen werden.
Wenn wir erkennen, dass diese Ideologien, die hinter rechten Potentialen stehen und die zu rechter Gewalt und rechtsextremen Terror führen, von der bestehenden Gesellschaft und ihren Widersprüchen selbst hervorgebracht werden und ihr nicht äußerlich sind, dann hat konsequenter Antifaschismus, der eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Bedingungen rechten Terrors beinhaltet, die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Widersprüchen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft selbst zur Folge. Es hat dann auch zur Folge, dass es zur Auseinandersetzung darüber zwingt, wie sich ein solidarisches und wirklich demokratisches Zusammenleben organisieren lässt, in dem alle Menschen gleichermaßen am Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum und zu demokratischer Mitbestimmung beteiligt sind. Die Perspektive auf die Betroffenen rechter Gewalt zwingt uns zur Auseinandersetzung mit den Bedingungen solidarischen Zusammenlebens und zur Anstrengung von dessen Organisierung in wahrhaft demokratischer Form. Das ist die Notwendigkeit und die Schuld, die uns die Opfer rechter Gewalt aufgeben, die wir hier sichtbar machen wollen.