Vortragsreihe »Der Anschlag von Halle – antisemitische Ideologie, Memes und die gesellschaftliche ›Mitte‹«, September und Oktober 2021
Der Halle-Prozess und die Rolle der Nebenklage – Till Ewald
Am 21. Dezember 2020 wurde der Attentäter von Halle nach einem fünfmonatigen Gerichtsprozess wegen zweifachen Mordes und Mordversuchs an 66 Personen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Zuvor hatten im Prozess zahlreiche Betroffene, Sachverständige, Ermittler*innen und Zeug*innen ausgesagt.
Till Ewald hat den Prozess im Gerichtssaal beobachtet und wird vom Verlauf der Verhandlung berichten. Im Rahmen der Veranstaltung wird dargestellt, wie die der Tat zugrundeliegenden Ideologien, das Umfeld des Täters und die politisch-gesellschaftlichen Dimensionen der Tat im Gerichtssaal verhandelt wurden. Zudem wird auf die Arbeit von Polizei und Ermittlungsbehörden und die deutliche Kritik an dieser eingegangen. Der Fokus des Vortrags liegt dabei auf der Rolle der Nebenkläger*innen im Gerichtsverfahren. Wie prägten sie den Prozess und die gesellschaftliche Verhandlung der Tat? Welche Kritik äußerten Nebenkläger*innen an verschiedenen Aspekten des Prozesses und des Urteils? Der Vortrag nähert sich somit der Frage, inwiefern der Prozess einen Beitrag zu einer kritischen Aufarbeitung der Tat liefern konnte und warum das Urteil kein Schlussstrich sein darf.
Till Ewald ist Historiker aus Hannover, hat den Prozess zum Anschlag von Halle in Magdeburg sehr eng begleitet und schreibt aktuell an seiner Bachelorarbeit mit dem Fokus auf die sog. „Deutschen Aktionsgruppen“.
Die kompletten Mitschriften aus dem Halle-Prozess sind mittlerweile als Buch erhältlich: https://spectorbooks.com/der-halle-prozess-mitschriften
Halle gegen rechts hat den Prozess ebenfalls begleitet und jeden Prozesstag ausführlich in einem Podcast ausgewertet. Nachzuhören hier: https://anschlag.halggr.de/category/podcast/
Esther Dischereit hat nach dem Prozessende ein Buch herausgebracht, in dem die Betroffenen des Anschlags selbst zu Wort kommen: https://www.herder.de/geschichte-politik-shop/hab-keine-angst%2c-erzaehl-alles!-gebundene-ausgabe/c-34/p-21953/
Antimoderner Abwehrkampf – Zum Zusammenhang von Antisemitismus und Antifeminismus – Melanie Hermann
Antisemitische und antifeministische Ressentiments sind sowohl eng miteinander als auch mit einer verschwörungsideologischen Weltsicht verknüpft. Sie treten ineinander verschränkt auf, transportieren und ergänzen sich wechselseitig. Feminismus „verweibliche“ die Männer, verwehre den Frauen ihre natürliche Bestimmung, „frühsexualisiere“ die Kinder und gefährde dadurch das Wohl des „deutschen Volkes“, so verlautbaren rechte Gruppen, Parteien und Attentäter, wie jener aus Halle.
Im virtuellen Raum beschreiben verschwörungsideologische Blogs und Websites den Feminismus als Herrschaftsinstrument der „jüdischen Elite“, das zur Schwächung und letztlich zur Vernichtung des „deutschen Volkes“ eingesetzt werde. Der Vortrag zeichnet diese Verschränkungen von Antisemitismus und Antifeminismus, insbesondere im Rechtsterrorismus, nach.
Melanie Hermann ist seit 2017 Referentin der Amadeu Antonio Stiftung. Sie ist dort Leiterin des Projekts „No world order“, welches über Verschwörungsideologien aufklärt und mögliche Gegenstrategien aufzeigt.
Die ›Mitte‹ als Retterin der Demokratie? – Zur Demokratiefähigkeit der Christlichen Union – Marie Sophie Vogel
Passieren rechtsextreme Anschläge wie der in Halle, so wird von politisch-konservativer Seite sehr schnell nach einer stärkeren „Mitte“ gerufen, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen. Diese Forderung steht in der Tradition des sogenannten „Extremismusmodells“ von Backes und Jesse, mit welchem u. a. die Verfassungsschutzbehörden arbeiten.
Doch ist diese „Mitte“ wirklich der Garant einer starken Demokratie, oder eher Teil des Problems? Nicht erst die Mitte-Studien, sondern bereits Adorno bewertete „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.“
Mit Hilfe seiner Texte und Studien hat die Referentin daher die Grundsatzprogramme der CDU und CSU als Akteurinnen der selbsternannten „Mitte“ analysiert. Ziel war es herauszufinden, ob die Parteien demokratiefähig im Sinne Adornos sind und welche Auswirkungen das Ergebnis auf das umstrittene Extremismusmodell und die demokratische Gesellschaft hat.
In ihrem Vortrag stellt Marie Sophie Vogel die Ergebnisse der Analysen vor, anschließend gibt es Raum für Diskussion.
Marie Sophie Vogel hat Soziale Arbeit studiert und engagiert sich ebenfalls im Bereich des Antifaschismus und des Umweltschutzes. Die komplette Bachelorarbeit kann hier nachgelesen werden: https://bayern.rosalux.de/fileadmin/ls_bayern/dokumente/download/Bachelorarbeit_M%C3%BCndige_Mitte.pdf
Erinnern stören- der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive – Lydia Lierke
Der Mauerfall 1989 ging mit einer Vereinigung einher, die im folgenden Jahrzehnt migrantische und jüdische Lebensrealitäten in Deutschland massiv bedrohte. In der ritualisierten Erinnerungskultur ist das Erleben dieses Epochenbruchs aus Sicht der migrantischen und jüdischen Bevölkerung lange eine Leerstelle geblieben. Das Buch möchte diese oft unbekannten Geschichten und Perspektiven auf die deutsch-deutsche Vereinigung wieder sichtbar machen und an die Kämpfe um Teilhabe in den 1980er Jahren, einschneidende Erlebnisse um die Wende und die Selbstbehauptung gegen den Rassismus der 1990er Jahre erinnern. So beinhaltet der Sammelband Geschichten von Bürgerrechts- und Asylkämpfen ehemaliger Gastarbeiter*innen, von Geflüchteten in der BRD und der DDR, Beiträge über den Eigensinn von Vertragsarbeiter*innen, von damaligen internationalen Studierenden, über jüdisches Leben in Ost und West sowie über die Kämpfe von Sinti und Roma im geteilten Deutschland.
Lydia Lierke wurde 1990 in Hoyerwerda geboren. Sie ist Politikwissenschaftlerin und Autorin und arbeitet als Bildungskoordinatorin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Nebenher engagiert sie sich in der Initiative 6. April (https://initiative6april.wordpress.com/), welche sich u.a. mit dem immer noch nicht vollständig aufgeklärten Mord an Halit Yozgat auseinandersetzt. Sie hat sich darüber hinaus mit der Migrationspolitik der DDR und deren Einfluss auf die ostdeutsche Gesellschaft beschäftigt.
Das Buch „Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive“ hrsg. von Lydia Lierke und Massimo Perinelli kann hier erworben werden: https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/1039
Meme-Warriors und Attentäter – Heldenbilder in extrem-rechter Internetkultur – Johanna Maj Schmidt
Im Kontrast zur ungebrochen heroischen Propaganda der Nazis (und Neonazis) lässt sich im Kontext rechter Internetmeme-Kultur ein teilweise ironisch anmutender Umgang mit Heroismus beobachten. In ihrem Vortrag stellt Johanna Maj Schmidt diesen selbstironischen “Heldentypus” anhand einer Meme-Analyse vor. Trotz des teils humoristischen Umgangs mit Heldenfiguren drängt sich in Hinblick auf rechtsterroristische Attentate wie in Halle, Christchurch etc. und deren memetischer Rezeption die Frage nach zerstörerischen Potenzialen rechter Memekultur auf. So eröffnet sich zwischen einer selbstironischen Verarbeitung des eigenen Verlangens nach dem Heroischen und der Glorifizierung rechter Attentäter im Internet ein unübersichtliches Feld heroischer Darstellungen.
Johanna Maj Schmidt ist Künstlerin und Wissenschaftlerin. Sie studiert(e) u.a. Politikwissenschaften, englischsprachige Kulturen und Mediale Kunst. Derzeit promoviert sie im Graduiertenkolleg Rechtspopulismus, autoritäre Entwicklungen, extrem-rechte Diskurse und demokratische Resonanzen der Uni Leipzig und Köln. Schwerpunktmäßig beschäftigt sie sich dabei v.a. mit den sog. neu-rechten Bewegungen und dem Topos des Heroischen/Heldenhaften, der Incelszene und sog. Imageboards, bei denen sie deren Diskurse und Funktionsweisen analysiert.