Heute werden im #HalleProzess weitere Betroffene sprechen. Wir werden in den Pausen hier weiter berichten. Es ist sehr wichtig, dass wir ihren Stimmen viel Aufmerksamkeit geben.
In den letzten Prozesstagen hat die Richterin und die Staatsanwaltschaft immer wieder von einem „wir“ und „ihr“ gesprochen. Damit setzen sie sprachlich immer eine Trennung zwischen den jüdischen Zeug*innen. Othering ist eine sehr häufige Form von alltäglichem Antisemitismus.
Bevor der Prozess beginnt, wollen wir gern noch eine kurze Episode vom letzten Verhandlungstag des #HalleProzess teilen.
Bei der Befragung des Sicherheitsbeauftragten hatte Vertei. Weber immer wieder „Schilfrohrpavillon“zu der auf dem Synagogengelände aufgestellten סֻכָּה (Sukkah) gesagt. Er wurde dann von einer Person darauf hingewiesen, dass er bitte den korrekten Begriff verwenden soll.
In der nächsten Pause hat er die Person erneut angesprochen und eingefordert, dass sie ihm das jetzt erklärt. Als diese ihn darauf verwies, dass er das sehr einfach selber nachschauen kann, meinte er, dass ihm das eigentlich egal ist und nicht interessiert.
Dieses Verhalten ist leider sehr repräsentativ für das Verfahren. Es wird immer wieder deutlich, dass sich sehr wenig vorbereitet wird. Aus Unwissen und fehlender Sensibilität wird immer wieder die Sprache des Täters reproduziert.
Als erstes spricht @reblady heute vor dem Gericht. „The first thing I want the court to know is that I come from a family of Shoa survivors. […] I have known since I was a child that my existence is a miracle.”
Sie weist darauf hin, dass die Tat ein generationsübergreifendes Trauma reaktiviert hat und sie will, dass das Gericht dies versteht.
Daher schildert sie, was ihre Großmutter ihr am Telefon nochmals erzählte: Sie und ihre Geschwister wurden 1944 in Auschwitz-Birkenau von ihrer Mutter getrennt, dabei wurde die Mutter von Mengele geschlagen.
Sie kamen an einem Freitag, also einem Shabbat nach Auschwitz. Die Erlebnisse der Ankunft beschreibt die Großmutter als „Hell on this earth“. Später wurde sie als Zwangsarbeiterin nach Gelsenkirchen und Essen selektiert, in Essen arbeitete sie bei Krupp.
Im KZ Bergen-Belsen überlebte sie nur knapp, als Wachen auf sie schossen. Ihre Großmutter meint zu Rabbinerin Blady immer: „Look at me now! Look what I produced, such a great family!“.
Im Gegensatz zu Rabbinerin Blady war es ihrer Großmutter nie möglich, vor einem deutschen oder internationalen Gericht auszusagen. @reblady betont daraufhin, dass auch wenn die Shoa Vergangenheit ist, die Auswirkungen nicht vorbei sind.
Sie beschreibt, wie sie dafür kämpfen musste, ihr Kind wiederzusehen. Diese Trennung von ihrer Tochter und dass sie sich in kleine Gruppen aufteilen mussten als auch von der Polizei als Verdächtige behandelt zu werden erinnerte sie an die Geschichte ihrer Großmutter.
„Does it sound reasonable for someone that I was separated from my child for so long with no end in sight?”
Sie beschreibt, dass die Polizei nicht gut mit ihr kommunizierte und sie um alles kämpfen musste. Sie hebt hervor, dass auch die Behandlung durch die Polizei zu ihrem Trauma beigetragen hat.
„I want to thank the hospital here before the court and media. Their actions are a model how to treat people that went trough a trauma and where the victims of an attack.”
In der gesamten Aussage verweist sie immer wieder auf ein intergeneratives Trauma. Dieses sollte auch der Polizei bei ihren Protokollen und Abläufen bewusst sein.
Die Richterin fragt nach dieser Aussage, ob sie von ihrem Therapeuten wüsste, wann es ihr wieder besser gehen würde. Sie verneint das kopfschüttelnd. Es ist unbegreiflich, wie die Richterin nach dieser Aussage eine so unsensible Frage stellen kann.
Als zweite Zeugin sagt heute Naomi Henkel-Gümbel aus. Zu Beginn betont sie, dass sie bewusst auf Englisch aussagt. Dies hilft ihr eine Distanz zu den Schmerzen herzustellen, die die Familie seit Generationen erfuhr.
Sie zitiert Heinrich Heine: „Denk ich an dich Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“. Naomi Henkel wuchs in Deutschland auf, entschied sich jedoch aufgrund ihrer Erfahrungen in Deutschland bereits als junge Erwachsene in Israel leben zu wollen.
Erst 2018 kam sie zur Rabbinatsausbildung nach Berlin. Nach dem Attentat fragt sie sich in Deutschland „What I‘m actually doing here?“
Sie macht darauf aufmerksam, dass der Attentäter 3 potentiell tödliche Splitterbomben über die Mauer warf. Sie kritisiert die mediale Erzählung der vermeintlich „guten Tür“ aus „guter deutscher Eiche.“ Sie betont: „It was not the door that saved us!“.
Sie betont die Erzählung spiegelt das Bedürfnis der Gesellschaft eine*n Deutsche*n zu finden, der jüdische Menschen schützt. Anschließend appelliert sie an die deutsche Regierung und deutsche Gesellschaft Minderheiten und die Verletzlichen zu schützen.
Sie kritisiert die Aufklärung des BKA,das nicht in der Lage war zu den Imageboards und den Spielen, zu ermitteln. Auch der internationale Kontext/Refferenzen des Attentats auf Powey, El Paso, Christchurch, das Attentat von München und den Mord an Walter Lübcke wurden nicht erkannt.
Sie hat auch im Gericht das Gefühl, dass jüdisches Leben als „part of the past“ verstanden wird. So zitiert sie eine Frage der Vorsitzenden, die dem Attentäter anempfohl die Synagoge beim „Tag des offenen Denkmals“ zu besuchen.
Naomi Henkel-Gümbel wünscht sich, dass jüdisches Leben ein lebendiger Teil der Gesellschaft ist. Sie betont am Ende ihrer Aussage nochmals ihren Zugang : „Built bridges where other bulit walls.
“Als nächstes sagt ein Gemeindemitglied aus, das während der Tat an der Bima בִּימָה stand und das Gebet unterstützte. Er nimmt eine Explosion wahr und geht aber davon aus, dass es nix Schlimmes sein wird, da er immer noch Bewegung auf der Straße sieht.
Erst als er sieht, wie der Täter mehrmals auf die Tür schießt, hilft er mit, die Türen zu verbarrikadieren. Auch in seiner Aussage weist er darauf hin, dass sie nur wenig bis gar keine Informationen von der Polizei erhalten hatten.
Er beschreibt, wie sich das Gemeindeleben verändert hat und nun immer eine Polizeistreife vor der Synagoge steht. Auch er war immer verwundert, dass selbst an jüdischen Feiertagen keine Polizei in Halle vor der Synagoge stand. „Der jüdische Kalender ist bekannt, denke ich.“
Als nächster Zeuge sagt Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Halle aus. Zunächst wird er zum Sicherheitskonzept vor dem 9.10.2019 und dem Kontakt zur Polizei befragt.
Es gab regelmäßige Gespräche (1-2 mal im Jahr) mit der Polizei. Jedoch wurde die Sicherheitslage allein durch das LKA oder die Polizei evaluiert. Es gab keine Rücksprache mit der Jüdischen Gemeinde und keine Transparenz auf welcher Grundlage die Einschätzung beruht.
Nach dem Terroranschlag vom Breitscheidplatz 2016 artikulierte Max Privorozki die Sorgen der Gemeinde gegenüber den Sicherheitsbehörden. Jedoch gab es keinen polizeilichen Schutz während des Chanukka-Festes.
Anschließend schildert er den Ablauf des Tages am 9.10.2019. Während der Toralesung wollte der Sicherheitsbeauftragte mit ihm sprechen. Als er vor den Monitor trat, musste auch er die Tötung von Jana L. mit ansehen.
Seine nächsten Eindrücke sind Explosionen, zudem sah er im Monitor einen bewaffneten Mann, den er zunächst für einen Polizisten hielt. Die Gefahr realisierte er erst, als der Mann auf die Tür schoss.
Nachdem er im Monitor die Polizei sehen konnte, informierte er den Zentralrat der Juden, um weitere jüdische Gemeinden zu warnen.
Er beschreibt, dass einer der Molotowcocktails vor der Tür zur Synagoge geplatzt war und die Flüssigkeit auslief, in der Umgebung musste später der Boden ersetzt werden, da kein Rasen mehr wuchs. Betende der Synagoge deckten die Molotowcocktails mit Eimern vor Sonnenstrahlung ab.
Ältere Gemeindemitglieder mussten zudem das Fasten brechen, um ihren Kreislauf zu stabilisieren. Max Privorozki: „Wir sind keine Roboter.“
Nach der Evakuierung der Synagoge fuhr Max Privorozki zur Polizeistation. Unklar erschienen ihm die Kriterien, nach denen die Betenden zur Polizeistation oder in das Krankenhaus gebracht wurden.
So begegnete er auf der Polizeistation einem Gemeindemitglied, der bereits einen Herzinfarkt erlitten hatte. Dieser musste auf der Polizeistation von einem Notarzt behandelt werden.
Er sagt wie bereits andere Zeug*innen, dass für sie die Situation sehr lange unklar war. Das Schlimmste war für ihn jedoch, dass zwei Menschen gestorben sind.
Während des Tages und die kommenden Tage war er vor allem mit Presseanfragen aber auch Gesprächen mit Politiker*innen beschäftigt.
Wie der Kantor war er beeindruckt von der Solidarität der Zivilgesellschaft während des Shabbats am 11.10.2019. Diese empfand er als Kontrast zu 1938, als ebenfalls die Synagoge in Halle angegriffen wurde.
In der Folge stellte der Verteidiger Weber wie bereits in der letzten Woche Fragen bezüglich der Sicherheit der Synagoge. Er musste erneut auf das Imperfekt in der Fragestellung hingewiesen werden.
Als Folge des Anschlages ist auch zu benennen, dass der zuvor sehr transparente Veranstaltungskalender auf der Homepage der Jüdischen Gemeinde nicht mehr aktualisiert wird.
Für Max Privorozki gab es zwei Gründe, selber als Nebenkläger am #HalleProzess teilzunehmen: 1. Es ist ihm unvorstellbar, dass jemand so eine Tat heimlich vorbereiten kann.
Vor allem an den Generalbundesanwalt richtet er die Frage, inwieweit die Eltern des Attentäters etwas wussten oder gewusst haben konnten.
Er beschreibt das in der öffentlichen Diskussion oft bemühte Narrativ, dass Flüchtlinge Antisemitismus und Israelhass mitbrächten, da sie als Kinder so geprägt werden würden.
Gegen das Narrativ wendet er ein, dass die antisemitische Prägung der Kinder nicht nur den sog. Nahen Osten, sondern eben auch die Bundesrepublik betrifft.
Den 2. Grund warum Max Privorozki als Nebenkläger auftritt, beginnt er mit dem Statement: „Es gibt viele Antisemiten auf der Welt.“ Es gäbe jedoch einen Unterschied, jemanden nicht zu mögen und der aktiven Handlung, Menschen aufgrund zugeschriebener Merkmale anzugreifen.
Ihm stellt sich die Frage, wie jemand von einem normalen Antisemiten zum Mörder wird.
Auf eine Frage der Nebenklage zum materiellen Schaden der Gemeinde nach dem Anschlag betont er zunächst, dass der höchste Schaden die zwei Menschen sind, die umgebracht wurden. Der materielle Schaden sei für ihn irrelevant.
Abschließend wurden heute Fotos der Wohnung der Mutter des Attentäters sowie des Hauses des Vaters in Augenschein genommen.